Wohin das Herz uns trägt
Theorie ziemlich abgefahren ist.«
»Aber denken Sie doch mal darüber nach. Bringen Sie unsere Erkenntnisse mit den bekannten Fakten und Mustern in Verbindung.«
»Das sind alles Anekdoten, Julia. Kinder, die von Wölfen und Bären großgezogen wurden ...«
»Vielleicht wurde Alice eine Weile gefangen gehalten, und dann hat man sie freigelassen, und sie musste auf sich allein gestellt überleben. Irgendwann war sie einmal in menschlicher Gesellschaft, das ist eindeutig.«
»Warum kann sie dann nicht sprechen?«
»Ich glaube, sie ist selektiv stumm. Mit anderen Worten, sie kann sprechen, aber sie hat sich dafür entschieden, es nicht zu tun.«
»Wenn das auch nur teilweise zutrifft, sind jedenfalls therapeutische Superkräfte nötig, um sie in diese Welt zurückzuholen.«
Julia hörte den zweifelnden Unterton, und er überraschte sie nicht. Zurzeit hielt die ganze Welt sie für inkompetent, warum sollte es bei Max anders sein? Aber es überraschte sie, wie sehr es sie verletzte. »Ich bin eine gute Therapeutin. Jedenfalls war ich das früher.« Wieder griff sie nach den Papieren, begann sie einzusammeln und zurück in die Mappe zu stecken.
Max beugte sich zu ihr und berührte vorsichtig ihr Handgelenk. »Ich glaube an Sie, wissen Sie das? Falls das irgendeine Rolle spielt.«
Sie schaute ihn an, obwohl sie sofort wusste, dass es ein Fehler war. Jetzt war er so nahe, dass sie die unregelmäßige Narbe an seinem Haaransatz und eine weitere unter seiner Kehle sehen konnte. Der Feuerschein machte sein Gesicht weicher, und sie sah winzige Flämmchen im blauen Meer seiner Augen. »Danke. Ja, für mich spielt das eine Rolle.«
Als sie später wieder allein im Auto saß und nach Hause fuhr, dachte sie an diesen Augenblick zurück und fragte sich, warum sie diesem Mann so viel offenbart hatte.
Die einzige Antwort lag unter einem Berg von Selbstzweifeln begraben.
Ich glaube an Sie.
Die Ironie an der Sache war, dass sie sich in diesem Raum mit der leiten Musik und der Treppe, die zweifellos zu einem riesigen Bett führte, ausgerechnet von seinen Worten hatte verführen lassen.
Kapitel 12
Ellie brütete immer noch über dem Stapel Polizeiberichte und nippte an ihrem inzwischen schal gewordenen Bier, als sie Julia heimkommen hörte.
Langsam hob sie den Kopf. »Hallo.«
Julia schloss die Tür hinter sich. »Hallo.« Schwungvoll warf sie ihre Mappe auf den Küchentisch, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier heraus. »Wo sind Jake und Elwood?«
»Siehst du? Wenn sie dir plötzlich nicht mehr zwischen den Beinen rumschnüffeln, dann vermisst du sie. Sie liegen vor deiner Schlafzimmertür. Da rühren sie sich kaum noch weg. Ich glaube, es ist das Mädchen, die beiden sind ganz verrückt nach ihr.« Sie grinste breit. »Du hast also Max besucht.«
Julia setzte sich neben ihre Schwester aufs Sofa. »Warum überrascht es mich nicht, seinen Namen in einem Atemzug mit ›zwischen den Beinen rumschnüffeln‹ zu hören. Also, spuck‘s aus, was ist mit ihm los?«
»Diese Frage hat wahrscheinlich schon jede Frau in unserer Stadt gestellt.«
»Ich wette, er hat auch mit allen geschlafen.«
»Nein, das nicht.«
Julia runzelte die Stirn. »Aber er benimmt sich so.«
»Ich weiß. Er flirtet wie verrückt, doch viel weiter geht es für gewöhnlich nicht. Versteh mich nicht falsch - er war schon mit einigen im Bett. Aber er war nie richtig mit einer zusammen. Jedenfalls nicht für lange.«
»Was ist mit dir?«
Ellie lachte. »Als er hierher gezogen ist, war ich schwer hinter ihm her. So bin ich nun mal - wie du ja weißt. Nicht sonderlich subtil ..., ich warte nicht lange. Wenn ein gut aussehender Mann hier auftaucht, schlage ich zu.« Sie trank ihr Bier aus und stellte die Flasche weg. »Wir hatten unseren Spaß. Tequila, Tanzen im Pour House, Knutschen vor den Toiletten ... Als wir im Bett gelandet sind, waren wir schon ziemlich blau. Der Sex war ... Na ja, wenn ich ganz ehrlich bin, erinnere ich mich nicht wirklich daran. Woran ich mich erinnere, ist, dass ich ihm gesagt habe, wie leicht ich mich verlieben könnte.«
»Bei der ersten Verabredung?«
»Du kennst mich doch. Ich verliebe mich immer, und normalerweise gefällt das den Männern. Aber Max nicht. Er konnte gar nicht schnell genug wegkommen. Danach hat er mich behandelt, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.« Ellie warf ihrer Schwester einen schnellen Seitenblick zu und erwartete, in den grünen Augen, die ihren eigenen so ähnelten,
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