Wohin der Wind uns trägt
flogen, und der Wind zerzauste ihr schimmerndes, straff gespanntes Fell. Jo musterte sie sorgfältig, um sich zu vergewissern, dass keines der Tiere lahmte oder eine andere Verletzung aufwies. Lächelnd füllte sie dann die restlichen Futtertröge und sah belustigt zu, wie die Anführerin der Herde die anderen grob beiseite stieß, um ihre Vormachtstellung zu beweisen, und wie alle anderen um einen Platz beim Futter kämpften.
»Alles Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.« Das war für Jo eine unumstößliche Wahrheit.
Sie ging um die Herde herum, um die Tiere noch einmal zu begutachten. Als sie den Blick über die Koppel schweifen ließ, sah sie ein Pferd, das im Schatten der Bäume verharrte. Besorgt holte sie einen kleinen Beutel aus Lindas Wagen und ging mit einer Hand voll Luzerne auf die große braune Stute zu. Es war meist kein gutes Zeichen, wenn eine Zuchtstute die Nahrung verweigerte. Jo kam näher und erkannte das Pferd an der strahlend weißen Blesse und einer weißen Fessel. Das musste Bountiful Lass sein, die Stute, von der ihre Großmuter beim Betrachten der Fotos so geschwärmt hatte – die wertvollste Zuchtstute von Dublin Park.
Jo war aufgeregt; sie hielt Bountiful Lass das Futter hin. Aber die Stute zeigte nicht das geringste Interesse daran. Stattdessen ging sie hin und her und drehte sich suchend in alle Richtungen und beschnupperte den Boden, als hielte sie Ausschau nach einem Platz, um sich zu wälzen.
Vielleicht steckte ja nichts dahinter, dachte Jo voller Hoffnung.
Sie ging näher heran, streichelte das Pferd sanft und untersuchte es erneut auf Verletzungen oder Anzeichen von Lahmheit. Als sie nichts entdecken konnte, warf sie einen Blick zwischen die Hinterbeine der Stute, um sich das Euter anzusehen. Die Zitzen waren zwar geschwollen, sonderten aber keine Milch ab. Beim Zurücktreten stellte Jo fest, dass sich die Vulva von Bountiful Lass geweitet hatte. Offenbar war die Stute im Begriff, ihr Fohlen zur Welt zu bringen.
»Aber es ist doch noch gar nicht so weit«, rief Jo erschrocken.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen sah sie zu, wie die prachtvolle Stute in Kauerstellung ging. Anscheinend wollte sie direkt vor Jos Augen ihr Fohlen bekommen. Eine halbe Minute später sprang Bountiful Lass auf, um sich kurz darauf wieder hinzukauern. Jos Begeisterung wurde von Panik abgelöst. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hatte schon zu viele Stuten in den Wehen erlebt, um eine Risikogeburt nicht zu erkennen. Nervös rannte sie zum Auto zurück und funkte die Krankenstation an. Sie bekam einen jungen Stallburschen an die Strippe.
»Linda sagt, es ist unmöglich, dass das Fohlen schon kommt«, beharrte er, nachdem er Jo fast eine Ewigkeit hatte warten lassen.
»Ich muss sofort mit Linda sprechen«, protestierte Jo.
Sie kaute hektisch an ihren Fingernägeln. Wenn die Fruchtblase der Stute jetzt platzte, würde sie auf der Stelle einen Tierarzt brauchen. Und falls das Fohlen dann nicht innerhalb einer halben Stunde kam, bestanden nur wenig Chancen, es zu retten. Das war das Risiko einer Abfuhr von Linda wert. Die Stute rutschte unruhig hin und her und stöhnte.
Endlich kam Linda an Apparat.
»Bountiful Lass ist in frühestens drei Wochen fällig. Wahrscheinlich hat sie eine leichte Kolik«, schimpfte die Tierpflegerin. »Heute ist es ziemlich windig, und die Pferde sind nervös. Außerdem habe ich ein verletztes Tier hier. Ich lasse die Stute in die Geburtskoppel bringen, sobald ich jemanden entbehren kann.«
Jo spürte, wie Panik in ihr aufstieg.
»Nein, nein! Linda, hör mir zu. Bitte, verlier keine Zeit. Mit der Stute stimmt etwas nicht«, schrie sie ins Funkgerät. »Bitte, Linda. Ich habe genug Stuten in den Wehen erlebt, um zu erkennen, dass es Probleme gibt. Du musst sofort den Tierarzt rufen …«
Ein schnarrendes Geräusch ertönte, und dann war die Leitung tot. Entgeistert starrte Jo auf das Mikrofon in ihrer Hand. Hatte die dumme Pute denn gar keine Ahnung von Pferden? Wenn nicht sofort etwas unternommen wurde, bestand Gefahr, dass sie nicht nur das Fohlen, sondern auch die Stute verloren. Das würde Großmutter Jo niemals verzeihen. Immer wieder funkte sie die Krankenstation an, aber vergeblich. Auch im Haus konnte sie niemanden erreichen.
»Bitte, lieber Gott, mach, dass sie jemanden schickt«, schluchzte Jo und eilte zurück zu Bountiful Lass.
Beruhigend redete sie auf die Stute ein und untersuchte sie erneut. Ihre Fruchtblase war geplatzt. Bountiful Lass presste
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