Wohin der Wind uns trägt
meinst du doch nicht im Ernst?«, staunte Emma. Nachdem sie kurz zur Decke geblickt hatte, richtete sie sich ruckartig auf. »Du bist Joanna, die Neue, richtig? Weißt du was? Wir tauschen. Ich räume deinen Kram weg, und du beseitigst dieses Durcheinander.«
»Nein, danke, ich habe es nämlich schon fast hinter mir. Übrigens heiße ich Jo«, erwiderte Jo lachend. »Aber ich helfe dir natürlich gern.«
»Wirklich? Dich hat der Himmel geschickt«, rief Emma, riss die Arme hoch und fiel wieder aufs Bett.
Lachend fing Jo einen Waschbeutel auf, bevor dieser zu Boden purzelte, und räumte rasch ihre letzten Sachen in die Kommode. Dann nahmen sie gemeinsam Emmas Gepäck in Angriff.
Die beiden Mädchen quälten sich im Laufe der nächsten Wochen mit störrischen Blumenarrangements ab, ließen kichernd den Benimmunterricht über sich ergehen und plagten sich mit der französischen Sprache. Dabei stellte Jo fest, dass Emma trotz ihres exaltierten Auftretens und ihres scheinbaren Selbstbewusstseins ein tief verunsicherter Mensch war und sich wie sie selbst nach Liebe und Anerkennung sehnte. Da ihr Vater, ein hochrangiger Offizier bei der britischen Luftwaffe, immer wieder auf einen anderen Stützpunkt der Welt versetzt worden war, hatte Emma nie ein richtiges Zuhause kennengelernt. Die zwei Semester in Pierrefeu bedeuteten für sie deshalb so etwas wie Beständigkeit. Die Schulferien verbrachte sie meistens in Ferienlagern oder bei ihrer Tante in England. Um sie dafür zu entschädigen, gaben ihre Eltern ihr jede Menge Taschengeld und überhäuften sie mit teuren Geschenken. Von einem Besuch war jedoch nie die Rede.
»Daddy ist beruflich sehr eingespannt, und er braucht Mummy an seiner Seite«, rechtfertigte sich Emma stets, wenn sie jemand auf dieses Thema ansprach. Deshalb erwähnte Jo es lieber gar nicht erst, auch wenn ihr die Trauer nicht entging, die sich hinter Emmas fröhlichem Lächeln verbarg.
Samstags flüchteten sich die Mädchen meist auf die Skipisten in der näheren Umgebung und freundeten sich immer mehr miteinander an, bis sie nach einigen Wochen unzertrennlich waren. Trotz ihres oft dramatischen Gehabes war Emma sehr reif für ihr Alter. Wenn Jo ihr zuhörte, wie sie begeistert über den Beruf des Fotomodells sprach, bekam sie beinahe Lust, auch für eine Weile zu dieser glamourösen und aufregenden Welt zu gehören. Außerdem musste sie sich widerstrebend der Erkenntnis stellen, dass sie das Vertrauen und den Respekt ihres Vaters wohl nur zurückgewinnen würde, wenn sie den sehnlichsten Wunsch ihrer Mutter erfüllte und sich ernsthaft Mühe gab, als Model Karriere zu machen.
Es musste ja nicht für immer sein, tröstete sie sich. Doch tief in ihrem Innersten fragte sie sich, wie lange sie wohl durchhalten würde.
Nur beim Tennis konnte Jo Dampf ablassen. Als das Wetter besser wurde und sie im Freien spielen konnten, verbesserte sich Jos Technik unter Emmas wachsamem Blick rasch. Sie machte ihrer aufgestauten Wut und Verzweiflung Luft, indem sie die kleinen gelben Bälle über den Platz schmetterte. Im Austausch für die Tennisstunden half Jo Emma, ihre Angst vor Pferden zu überwinden, und sie brachte ihr das Reiten bei.
In Pierrefeu war Reiten keine Pflichtveranstaltung, auch wenn man auf Wunsch einen Kurs belegen konnte. Als der Schnee endlich fast geschmolzen war, nutzten Jo und Emma jede Gelegenheit, um auf ihren sanften Pferden die üppig grüne Landschaft zu erkunden. An plätschernden Bächlein entlang, an deren Ufern noch Schnee lag, ritten sie durchs hohe Gras und atmeten den süßen Duft der alten Nadelwälder ein. Die Schönheit der Landschaft ging Jo ans Herz, da sie sich an ihre Zeit in Dublin Park erinnert fühlte.
Rick war das einzige Thema, das Jo Emma gegenüber nie erwähnte. Seit einer Weile litt sie an schrecklichen Albträumen, in denen schauerliche Krankenhausszenen, Pferde, die sie unter ihren Hufen zertrampelten, und Männer, die sie wütend anschrien, eine Rolle spielten. Davon erwachte sie mitten in der Nacht durchgeschwitzt und mit tränennassen Wangen. Wenn sie dann dalag und in die graue Morgendämmerung starrte, litt sie solches Heimweh, dass sie sich fragte, wie sie es nur eine Sekunde länger so weit entfernt von der Kingsford Lodge, von Dad und Winks und all den wundervollen und prächtigen Pferden aushalten sollte. Aber ihr Vater war wütend auf sie, Winks war fort, und außerdem begann in wenigen Minuten der Kochunterricht. Um das Maß vollzumachen, war heute
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