Wohin der Wind uns trägt
schlechtes Gewissen noch verstärkte. Sie entschuldigte sich mehrmals für ihr Benehmen.
»Sie findet, dass es deine Eltern übertreiben«, vertraute Emma Jo an, nachdem die beiden die letzten Neuigkeiten ausgetauscht hatten. »Ich vermisse dich schrecklich. Du musst mir öfter schreiben, du treulose Tomate.«
»Das sagst ausgerechnet du«, erwiderte Jo lachend. Doch dann verkündete ein dreimaliger Piepton, dass das Telefongeld aufgebraucht war, und sie musste auflegen.
Emmas Zuversicht, ihre gute Laune und ihre respektlose Art fehlten ihr sehr. Aber beim Entladen der Pferde, die gerade vom Rennen in Cheltenham zurückgekehrt waren, aus dem Transporter kam sie zu dem Schluss, dass sie ihre Freundin überhaupt nicht um ihr Leben im Rampenlicht beneidete. Nein, sie hatte ihr Glück gefunden, genau hier im »Schlamm und Dreck«, wie ihre Mutter es genannt hatte. Jo war fest entschlossen, viel länger durchzuhalten als die zugestandenen sechs Monate. Mit federnden Schritten ging sie auf Outsider zu, einen vielversprechenden dreijährigen Wallach, der angebunden in einem der Pferdetransporter stand. Das Pferd, ein Neuzugang, schleuderte den Kopf zurück und wieherte schrill, als Jo sich näherte. Hastig wich sie zurück.
»Bleib weg von ihm«, rief ein Pferdepfleger, während Kurt, gefolgt von einem äußerst besorgten Guy Compton und dem Tierarzt, auf das Tier zueilte. »Er hat sich beim letzten Rennen die Schulter gezerrt. Schon vor der Verletzung war er ziemlich schwierig, doch jetzt machen ihn die Schmerzen bösartig.«
Rasch suchte sich Jo eine andere Aufgabe. Sie spritzte einen der Transporter mit dem Schlauch aus. Trotz des Wasserrauschens hörte sie das Gepolter des Kampfes: Zwei kräftige Stallburschen mussten das Pferd festhalten, damit der Tierarzt es untersuchen konnte. Outsider hatte ein Stockmaß von über einem Meter siebzig, war muskulös und sträubte sich in seiner Angst wie ein Wilder. Jo ließ sich beim Beruhigen einer verschüchterten Jungstute Zeit und beobachtete dabei durch die Gitterstäbe, wie die Männer die Seile immer fester anzogen. Sie hatte Mitleid mit dem mächtigen Pferd, das die Ohren anlegte, die Augen verdrehte, bis das Weiße sichtbar wurde, und sich gegen den Tierarzt wehrte, der ihm eine Spritze geben wollte.
»Halt still, du Mistvieh«, brüllte Kurt und stemmte seinen drahtigen Körper gegen die Seile. Willie Carstairs, der das Pferd bei seiner Verletzung geritten hatte, beobachtete den Kampf. Kurt, der auf einen großen Sieg in zwei Wochen hoffte, legte sich weiter mit finsterer Miene ins Zeug. Endlich gelang es den Männern, das Pferd lange genug ruhig zu halten, damit der Arzt ihm das Schmerzmittel verabreichen konnte. Jo beobachtete, wie Kurt sich anschließend trollte, und sie war überzeugt, dass er sich gerade eine Standpauke von Guy eingehandelt hatte.
Als es später ruhig im Stall war, pirschte Jo sich mit ihrem Verbandskasten zu Outsiders Box und spähte hinein. Sofort legte das Pferd die Ohren an, blähte die Nüstern, wieherte und trat aus. Ohne auf die Drohgebärden des Tieres zu achten, blieb Jo einfach stehen und redete leise auf Outsider ein. Nach einer Weile hörte er auf, in der Box hin und her zu laufen, und musterte Jo eindringlich. Als sie sicher war, dass er sich beruhigt hatte, verteilte sie ein paar Tropfen ätherisches Öl aus ihrem Kasten auf ihren Händen, öffnete vorsichtig die Tür und schlüpfte hinein. Sofort setzte Outsider sich wieder in Bewegung. Jo näherte sich flüsternd dem Pferd und verharrte, scheinbar fasziniert von einem Dunghaufen, in einer Ecke der Box.
Allmählich wurde das Pferd ruhiger und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, Jo zu beäugen, während diese imaginäre Krümel von der Wand pickte. Schließlich siegte die Neugier, und Outsider kam näher, um Jo zu beschnuppern. Langsam hob Jo die Hände und zeigte dem Pferd ihre Handflächen. Outsider schnüffelte an dem Öl. Sein warmer Atem kitzelte auf ihrer Haut. Mit einem lauten Wiehern wandte er den Kopf ab. Jo, die fand, dass dieser Fortschritt für heute genügte, wich weiter flüsternd zur Tür zurück und schlüpfte aus der Box.
Am nächsten Tag waren wieder einige kräftige Männer damit beschäftigt, Outsider zu bändigen, um ihn dem Tierarzt vorzuführen.
»Warum können sie nicht sanfter mit ihm umgehen? Merken sie denn nicht, dass sie es so nur schlimmer machen? Das Tier hat Todesangst«, schrie Jo in der Sattelkammer. Fassungslos musste sie mit
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