Wohin die Liebe führt
»Danke, daß du gekommen bist.«
»Nicht einmal Ketten hätten mich halten können«, sagte ich ruhig. Ich nahm ihre Hand, aber nur kurz und unpersönlich. Durchaus nicht so, wie man es sonst tut.
Sie zog die Hand rasch zurück und berührte mit einer mir wohlbekannten Geste ihre Stirn. »Kopfwehwarnung« hatte ich diese Geste genannt. Und der eigentümliche Schatten, der in ihre Augen kam, bestätigte meine Diagnose. »Plötzlich fühle ich mich alt«, sagte sie. »Du siehst so jung aus, wenn du neben Dani stehst.«
»Du wirst niemals alt aussehen«, erwiderte ich höflich.
Aber sie sah mich an und wußte es besser. Und wußte, daß auch ich es besser wußte. Der Schatten vertiefte sich, Furchen erschienen auf ihrer Stirn. Plötzlich wandte sie sich an ihre Mutter. »Hast du etwas Aspirin, Mutter? Ich fürchte, ich habe einen Schlafmittelkater!«
Mrs. Hayden wies auf das Büfett. »Dort, Nora.«
Ich beobachtete sie, als sie zum Büfett ging und drei Tabletten aus der kleinen Flasche schüttete. Eine tat sie zurück. Nun wußte ich, daß sie bereits drei genommen hatte, bevor sie hierherkam. Ehe sie das Aspirin schluckte, sah sie zu mir herüber, und wieder spürten wir blitzartig dies eigenartige Wiedererkennen.
Plötzlich tat sie mir leid. Fragen Sie mich nicht, warum. Sie tat mir eben leid. Manchmal ist es schrecklich, so viel von einem andern menschlichen Wesen zu wissen. Ich wußte, daß sie von einer neuen, unerklärbaren Furcht erfüllt war, daß sie sich sehr einsam fühlte. Dies war das »Morgen«. Das leere »Morgen« ihrer heimlichen Alpträume. Das »Morgen«, das niemals kommen würde - wie oft hatte sie sich das gesagt.
Und ich war in diesem »Morgen« derselbe, der ich immer gewesen war. Ehe sie mir das Herz aus dem Leibe gerissen hatte.
Im September 1943 war der Krieg in Italien fast vorbei. Ma-cArthurs Operationen zur Wiedereroberung der Philippinen hatten begonnen, und ich war in San Francisco und wickelte eine lange Werbeaktion für die Kriegsanleihe durch die Rüstungsfabriken ab. Die Bonzen hatten gemeint, dies sei eine ideale Mög-lichkeit, meine Kräfte wiederherzustellen, bis ich meinen Dienst wiederaufnahm.
Nora veranstaltete ihre erste Ausstellung, um die Werke zu zeigen, die sie in den einundzwanzig Monaten seit Kriegsbeginn geschaffen hatte. Das kleine Atelier - früher ein Gewächshaus hinter dem Haus ihrer Mutter - war mit Menschen überfüllt. Sie sah sich prüfend um. Es gefiel ihr - alles war gelungen.
Auch die Zeitungen hatten ihre Kritiker geschickt, und die schienen beeindruckt. Nora glühte innerlich vor Stolz. Diese Ausstellung - das war eine Entschädigung für die vielen ermüdenden Nächte, die sie im Atelier verbracht hatte, denn tagsüber arbeitete sie in einer Flugzeugfabrik.
Der Krieg. Es war albern, was sie getan hatte. Aber sie war hineingerutscht wie alle andern. Hineingerutscht in die Hysterie des Patriotismus. Die Zeitungen hatten viel davon hergemacht: Nora Hayden, die prominente Debütantin, Tochter einer der ersten Familien von San Francisco und zugleich eine der verheißungsvollsten jungen Künstlerinnen Amerikas, setzt ihre Karriere für die Dauer des Kriegs hintan!
Als sie das las, war sie sich selbst wie eine Närrin vorgekommen. Aber schließlich hatte sie 1942 nicht gedacht, daß sich der Krieg so lange hinziehen würde. Nun mußte sie es ausbaden. Sie hatte es satt, um sechs Uhr dreißig aufzustehen und sechs Tage in der Woche fünfzehn Meilen weit zur Arbeit zu fahren, um jeden Tag die gleiche, geisttötende Arbeit zu tun.
Das Fließband. Das Fließband stoppen. Draht eins an Draht zwei löten. Das Fließband weiterlaufen lassen, damit das Mädchen neben ihr Draht zwei an Draht drei löten kann. Das Fließband stoppen. Draht eins. Nein, Nora war es müde, die tapfere Kriegshelferin zu spielen.
Das Ganze war zu sehr mechanisiert, zu genau geplant für sie. Sogar die Mittagspause war organisiert. Nicht genug damit, daß sie diese scheußlichen Sandwiches essen mußte; nein, jeden
Mittag mußte sie außer dem Sandwich und dem trüben, ungesüßten Kaffee auch noch Ermahnungen schlucken, die Produktion zu steigern.
Und diesen Mittag sollte in der Pause ein Kriegsheld eine Ansprache an die Belegschaft halten. Sie war nicht hingegangen, sondern hatte sich nach oben in die Lounge geschlichen. Hier kauerte sie auf einer Bank in der Nähe des Fensters. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und streckte sich aus. Sie schloß die Augen. Es war
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