Wohin du auch fliehst - Thriller
genommen und wäre in komischen Wohnungen aufgewacht, ohne zu wissen, wo ich mich befand und was zum Teufel ich am Abend zuvor gemacht hatte. Vielleicht hätte ich dann einen besseren Abschluss gemacht und wäre jetzt Chefin in einer großen Firma, statt für einen kleinen Kunststoffhersteller zu arbeiten.
Dann wäre ich an jenem ersten Abend vielleicht nicht in einem roten Satinkleid voller romantischer Erwartungen ins River gegangen, um Halloween zu feiern. Und hätte wahrscheinlich nicht die Jacke getragen, in deren Tasche noch eine Quittung von meinem letzten Tee im Café des Fitnessclubs steckte. Vermutlich hätte ich die Quittung erst gar nicht in der Jackentasche gelassen, wo er sie und mit ihrer Hilfe einen Weg zu mir hätte finden können. Vielleicht wäre ich einfach davongekommen, ohne ihn jemals wiederzusehen.
Dann hätte ich ihm vielleicht entkommen können.
Doch selbst jetzt hätten mir Mom und Dad, wenn sie denn noch leben würden, helfen können, von ihm loszukommen. Sie hätten erkannt, wie gefährlich er war. Ob ich auf sie gehört hätte? Vermutlich nicht.
Wäre Mom noch am Leben gewesen, wäre ich jetzt vielleicht mit einem netten, zuverlässigen, grundehrlichen Mann verheiratet. Vielleicht hätte ich ein Kind, vielleicht auch zwei oder sogar drei.
Es brachte nichts, darüber nachzudenken, was alles hätte sein können. Ich beschloss, ab heute zurückzuschlagen – so wie ich es jeden Tag beschloss, bevor er wieder meine Wohnung betrat und alles hübsch unter seine Kontrolle brachte.
Doch diesmal war alles anders.
Jonathan Baldwin hatte mir eine Mail geschrieben. Ich erinnerte mich an ihn, wenn auch nicht gleich. Wir hatten beide vor vier Jahren den einmonatigen Fortbildungskurs in Manchester besucht. Er wirkte kontaktfreudig, begeistert, wir hatten miteinander gelacht, und wahrscheinlich hatte ich ihm versprochen, in Kontakt zu bleiben, auch wenn dieses Versprechen nie eingelöst wurde. Er schickte mir aus heiterem Himmel eine Mail in die Arbeit und wollte wissen, wie es mir ginge. Er schrieb, dass er gerade eine Niederlassung seiner Unternehmensberatung in New York eröffne, und fragte, ob ich ihm jemanden empfehlen könne. Ich mailte zurück, dass ich darüber nachdenken und ihm dann Bescheid sagen würde. Das kam mir vor wie ein Wink des Schicksals. Ob wohl New York die Antwort auf meine Fragen war?
Als ich von der Arbeit nach Hause kam, wartete Lee schon auf mich.
Nicht auf der Türschwelle wie schon einmal – nein, er stand in der Küche und bereitete eifrig das Abendessen vor. Das hatte er bereits öfter getan, und normalerweise freute es mich. Heute wäre ich am liebsten davongerannt, als ich die Tür öffnete und den Essensgeruch in der Nase hatte. Doch das hätte mir auch nichts gebracht.
Er kam und ging, wie er wollte. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als mich das wahnsinnig aufgeregt hatte. Im Grunde war das gar nicht mal so lange her. An die Zeit, in der ich noch einen Freiraum wollte, eine Tür, die ich hinter mir zumachen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass er ohne mein Wissen meine Wohnung betrat. Ich wusste noch, wie ich ihm gesagt hatte, ich wolle diesen Freiraum zurück. Wie ich ihn gebeten hatte, mir meinen Schlüssel zurückzugeben, und er daraufhin gegangen war. Ich erinnerte mich, dass er einfach so gegangen war, ohne sich groß darüber aufzuregen.
Wenn ich daran zurückdachte, konnte ich nicht glauben, dass er mich so einfach aufgegeben hatte. Was für eine Idiotin, was für ein Trottel war ich nur gewesen, mich wieder auf die Suche nach ihm zu machen! Ich hätte verschwinden können. Wenn ich ihn in Ruhe gelassen, ihm aus dem Weg gegangen und wieder mit meinen Freunden ausgegangen wäre, hätte ich frei sein können.
Doch das habe ich nicht getan.
Mittwoch, 13. Februar 2008
Um halb zwei rief Stuart an. Ich saß mit Caroline in meinem Büro und besprach die Bewerbungen für die Lagerhausjobs. »Hallo?«
»Hi, ich bin’s. Kannst du reden?«
»Klar.«
»Ich habe gerade Mrs Erdgeschoss besucht.«
»Wie geht es ihr?«
»Nicht gut. Offenbar hat sie nach ihrer Einlieferung nicht wieder das Bewusstsein erlangt. Man hat verschiedene Untersuchungen gemacht. Sie scheint sich den Kopf bei ihrem Sturz schlimmer verletzt zu haben als vermutet.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Man hat mich nach ihren nächsten Verwandten gefragt.«
»Ich habe keine Ahnung.«
Caroline sah mich fragend an. Sie wollte wissen, ob sie das Zimmer verlassen sollte, doch ich
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