Wohin du auch fliehst - Thriller
wäre er betrunken, sei dann in sein Auto gestiegen und weggefahren. Doch nicht das hatte sie beunruhigt: Als er sich auf den Fahrersitz setzte, hatte sie das Blut an seinen Händen und vorne auf seinem Hemd gesehen.
Und zu meinem großen Glück hatte er die Tür nicht richtig zugemacht. Als sie sich sicher sein konnte, dass er weg war, hatte sie die Tür aufgedrückt, nach mir gerufen und mich dann auf dem Teppich im Gästezimmer gefunden. Ihr Notruf wurde vor Gericht gewertet. Die sonst immer so gefasste, ruhige, freundliche Wendy hatte um Hilfe geschrien, schockiert geschluchzt, weil sie einen nackten Menschen gefunden hatte, der aus unzähligen offenen Wunden blutete und kaum noch atmete. Ich konnte es kaum mit anhören. Ich glaube, das war am letzten Verhandlungstag, bei dem ich zugegen war – ich erinnere mich kaum noch an andere Einzelheiten von dem Prozess.
Plötzlich klingelte mein Handy in meiner Tasche, die auf dem Sofa lag. Ich zuckte zusammen.
»Na du!«, sagte Stuart, und seine Stimme klang unglaublich müde. »Du hast mir heute gefehlt.«
»Du mir auch. Bist du fast fertig?«
»Ja. Ich notiere nur noch schnell was, dann mache ich mich auf den Weg. Soll ich was zu essen mitbringen?«
»Gern«, sagte ich. »Hör zu, ich muss noch mal kurz weg. Ich möchte im Büro noch was nachschauen.«
Ich hörte, wie sich seine Stimme änderte. »Du gehst noch mal ins Büro?«
»Ja, aber keine Sorge, ich brauche nicht lange. Vermutlich bin ich schon wieder zurück, bevor du von der Arbeit nach Hause kommst.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann: »Cathy, es ist doch alles in Ordnung, oder?«
»Ja«, sagte ich und versuchte ein Lächeln in meine Stimme zu legen. »Natürlich. Ich muss das nur erledigen, damit ich nicht den ganzen Abend daran denke.«
»Gut, nimm dein Handy mit«, sagte er.
»Mach ich, bis später!«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch«, sagte ich.
Ich legte auf, blieb einen Augenblick stehen und überlegte, was ich gesagt und wie das für einen Außenstehenden geklungen haben mochte. Ich hatte es bisher immer vermieden, von meiner Wohnung aus mit Stuart zu sprechen, für den Fall, dass Lee alles verwanzt hatte und mithörte. Ich fragte mich, wie lange ich das noch durchhalten konnte. Ich erwischte einen Bus, der etwa in die richtige Richtung südlich des Flusses fuhr. Der Verkehr löste sich langsam auf, und als ich Sylvias Straße erreichte, war es bereits völlig dunkel. Ich lief von der Bushaltestelle zu Fuß weiter und überlegte, welche Straße die richtige war, denn sie sahen alle gleich aus. Seit Stuart mich in der Wohnung angerufen hatte, war fast eine Stunde vergangen.
Diesmal war die schwarze Tür verschlossen. Ich klingelte bei Wohnung 2. Ich konnte die Klingel aus dem hinteren Teil des Hauses hören, doch niemand öffnete. Ich wartete einen Augenblick und klingelte erneut. Ich sah auf meine Uhr. Zehn nach neun. War sie um diese Zeit zu Hause? Das waren jedenfalls die meisten an einem Sonntagabend, sogar in London. Ich klingelte noch einmal, diesmal knackte es in der Sprechanlage. Doch es war nicht Sylvia – sondern jemand anders.
»Hören Sie, offensichtlich ist sie nicht zu Hause. Verpissen Sie sich!«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin mit ihr verabredet. Würden Sie mich reinlassen?«
Keine Reaktion, die Sprechanlage blieb stumm.
Nun, ich konnte nicht die ganze Nacht hier verbringen. Ich ging bis ans Ende der Straße, bog links ab und folgte der Stirn seite der Häuserzeile bis zur obligatorischen Gasse, die hinter den Häusern verlief. Es war jetzt stockdunkel, zweifellos lag überall Hundekot zwischen umgekippten Mülleimern und anderem Unrat – doch dafür würde ich auf diesem Weg zur Rückseite von Sylvias Wohnung und zu dem Garten gelangen, in dem wir gesessen und in der Sonne Tee getrunken hatten.
Zweihundertzehn Schritte über unebenen Boden, genauso viele, wie ich von der Vorderseite ihres Hauses bis zum Ende der Straße zurückgelegt hatte, dann stand ich vor einem Tor, unter dem Grasbüschel wuchsen, und einer Mauer. Ich spürte die rauen Ziegel, fuhr mit den Fingern darüber. Sie war schulterhoch. Ich zog mich an ihr hinauf, schürfte mir dabei die Knie auf und versuchte, mit meinen Turnschuhen Halt zu finden.
Als ich mich mit den Ellbogen auf der Mauer abstützte, konnte ich in den Garten und die Fenster dahinter blicken – alles war dunkel. Im ersten und zweiten Stock brannte Licht, überall standen die Fenster offen, die Nacht war
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