Wohin du auch fliehst - Thriller
mir kam ein höchst seltsamer Gedanke: wie komisch sich das anfühlte. Dann wurde mir klar, dass mein Haar jetzt kurz geschnitten und nicht mehr lang war. Es war, als wäre mir bewusst geworden, dass ich nicht mehr dieselbe war. Plötzlich wollte ich mir die Haare wieder wachsen lassen, nur damit ich wieder spüren konnte, wie es war, wenn Finger durch mein Haar fuhren und meinen Kopf hielten.
Er stieß einen Seufzer aus, ich hob meinen Kopf und küsste ihn. Zuerst küsste er mich nicht zurück – er erstarrte, aber nur einen Augenblick. Dann fuhr die Hand, die bis dahin meinen Kopf gehalten hatte, zu meiner Wange. Seine Finger fühlten sich kühl an auf meiner brennenden Haut. Schließlich küsste auch er mich. Er schmeckte ein wenig nach Guinness. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden, und sein Griff um meine Taille wurde ein wenig fester. Trotz seiner Schulterverletzung wirkte er sehr stark auf mich.
Ich hätte Angst bekommen müssen. Ich sollte verdammt noch mal Angst haben, dachte ich. Doch dem war nicht so. Ich wollte nicht, dass er mich losließ.
Er löste sich von mir und sah mich an. Mit einer Hand stütz te er meinen Rücken, die andere lag auf meiner Wange. Vielleicht versucht er bloß zu erkennen, wie betrunken ich bin, überlegte ich. Doch das war es nicht. Besorgnis lag in diesen grünen Augen. Er wollte sehen, ob es mir gut ging.
Doch anscheinend ging es mir gut, denn er küsste mich erneut. Vermutlich etwas heftiger als geplant – seine Bartstoppeln kratzten meinen Mund.
Langsam ließ er mich wieder los. Meine Hand, die irgendwie ihren Weg unter sein Hemd gefunden hatte, löste sich zögernd von seinem Kreuz. Er machte einen Schritt zurück und sah mich an.
Ich dachte nur: Wage es ja nicht, dich zu entschuldigen. Wage nicht, mir zu sagen, dass es dir leidtut.
»Willst du mit reinkommen?«, fragte ich und warf einen Blick auf die Wohnungstür. Ich wollte ihm die Kleider vom Leib reißen und dann von ihm gevögelt werden. Und zwar genau jetzt, genau in diesem Moment. Ich glaube, ich hätte sogar dafür bezahlt.
Eine lange Pause entstand, die mit jedem Augenblick schreck licher wurde. Dann schüttelte er den Kopf. Er schien hin- und hergerissen zu sein und so etwas wie einen inneren Kampf auszufechten, der irgendwann entschieden war, denn er machte einen Schritt auf mich zu, küsste mich erneut flüchtig, diesmal auf meine glühende Wange, und flüsterte: »Wir sehen uns morgen.« Dann drehte er sich um und rannte immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben. Ich hörte den Schlüssel im Schloss, hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, danach wurde es still. Ich stand alleine vor meiner Wohnungstür, so als wäre ich gerade von der Arbeit gekommen.
Mit dem Unterschied, dass ich ein wenig schwankte, so als wehte ein heftiger Wind. Und dass ich dringend aufs Klo musste.
Donnerstag, 25. Dezember 2003
Mein Handy klingelte, während wir noch ineinander verkeilt waren. Ich konnte es problemlos ignorieren und mich auf Lees Körper und seinen Rhythmus konzentrieren. Doch er verzog das Gesicht, und ich spürte, wie angespannt er war. Er war abgelenkt. »Verdammtes Telefon!«, maulte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Mach dir keine Gedanken. Vergiss es. Hör nicht darauf«, sagte ich.
Doch die Stimmung hatte sich verändert. Er stieß mich unsanft von sich, packte meine Haare und drehte mich grob herum. Der plötzliche Schmerz ließ mich aufschreien, doch er achtete gar nicht darauf, sondern nahm mich von hinten. Ich wehrte mich, doch er riss nur noch heftiger an meinem Kopf und machte einfach weiter, und zwar noch heftiger als zuvor.
Es dauerte eine Minute, dann hörte ich den Laut, den er im mer machte, wenn er kam. Anschließend zog er sich aus mir zu rück, stand auf, ging ins Bad und knallte so heftig die Tür hinter sich zu, dass das Fenster klirrte.
Ich lag still da und spürte, wie meine Kopfhaut an der Stelle kribbelte, wo er mich an den Haaren gezogen hatte, ich hörte mein Herz schlagen. Was zum Teufel sollte das? Ich hörte, wie die Dusche ausgedreht wurde.
Das Telefon klingelte erneut, und ich ging dran.
»Frohe Weihnachten, Süße!« Es war Sylvia.
»Hallo, Liebste, wie geht es dir?«
»Ich bin nicht betrunken genug. Und du?«
»Es ist gerade mal halb eins«, sagte ich und sah auf die Uhr. »Hast du schon angefangen?«
»Na klar. Sag bloß, du liegst noch im Bett!«
»Könnte sein.«
»Tja«, sagte sie beleidigt. »Das würde ich
Weitere Kostenlose Bücher