Wohin du auch fliehst - Thriller
vermutlich auch, wenn Lee mir Gesellschaft leisten würde.«
»Ich überlasse ihn dir gerne, er ist heute Morgen ziemlich schlecht gelaunt«, erwiderte ich.
»Hm, soll ich rüberkommen und ihm den Hintern versohlen?«, fragte sie.
»Nein, passt schon«, sagte ich und musste lachen bei dem Gedanken. »Was hast du vor?«
»Du weißt schon, alles Mögliche … Mutter möchte, dass ich ihr helfe, das Mittagessen vorzubereiten, und ich will meine neuen Klamotten ausführen. Immer das gleiche Lied.«
Ein paar Minuten später beendete ich das Gespräch und zog mich an. Ich schlüpfte in eine schmuddelige Jeans, in einen Pulli und warme Socken. Die Küche sah chaotisch aus, Toastkrümel und Teebeutel lagen im Spülbecken. Ich hatte fast den ganzen Abwasch erledigt und dabei die Weihnachtslieder im Radio mitgesungen, als Lee herunterkam. Er trug Jeans, sonst nichts. Sein Oberkörper war stramm, die Haut feucht. Er schlang von hinten seine Arme um meine Taille, sodass ich zusammenzuckte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Er vergrub sein Gesicht an meinem Hals. »Ja«, sagte er. »Bis auf das verdammte Telefon. Wer war das?«
»Sylvia.«
»Das hätte ich mir denken können.«
»Du hast mir wehgetan.« Ich drehte mich in seinen Armen zu ihm um und sah ihn an.
»Wie habe ich dir wehgetan?«
»Du hast mich an den Haaren gezogen, und es hat echt wehgetan.«
Er lächelte so merkwürdig und fuhr über meinen Kopf. »Tut mir leid. Magst du es denn nicht, ein wenig härter rangenommen zu werden?«
Ich überlegte. »Ich weiß nicht, jedenfalls nicht so hart«, sagte ich.
Er ließ mich los und trat einen Schritt zurück. »Alle Frauen mögen es, hart rangenommen zu werden. Die, die das Gegenteil behaupten, lügen«, sagte er.
»Lee!«
Doch er lachte nur und ging ins Wohnzimmer. Vielleicht macht er bloß Witze, dachte ich. Vielleicht hat er es nicht so gemeint. Ich fuhr mit meinen Fingern von den Haarwurzeln bis zu den Spitzen. Lange Strähnen blieben in meinen Fingern hängen. Ich sah mir die Haare an und schüttelte meine Hand dann über dem Mülleimer aus.
Sonntag, 23. Dezember 2007
Wieder ein Sonntag. Es ist bewölkt, müsste also eigentlich ein guter Tag sein. Vielleicht gehe ich nachher noch laufen.
Doch im Moment fühlte ich mich total beschissen.
Nachdem er mich vor meiner Wohnung hatte stehen lassen und nach oben gegangen war, wurde ich das Gefühl nicht los, mich vollkommen zum Deppen gemacht zu haben. Die Erinnerung an ihn fühlte sich zwar noch ganz warm und wohlig an, vermutlich aufgrund der zwei Gläser Wein (zwei Gläser, mein Gott!), doch jetzt, im unbarmherzigen Licht eines trüben, windigen Dezembermorgens, musste ich immerfort daran denken, wie vergnügt ich ihm erzählt hatte, dass ich in der Psychiatrie gewesen war – und das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal! Daran, wie er erstarrt war, als ich ihn geküsst hatte, wie er sich aus meinem Klammergriff befreit hatte und dann, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, hinaufgerannt war.
Was um Himmels willen hatte ich mir da bloß eingebildet? Er musste meine Verzweiflung gespürt haben. Kein Wunder, ich bin ja auch völlig durchgeknallt. Kein Wunder, dass ich meine Wohnung nicht verlassen kann, ohne vorher alles mindestens vierzig Mal zu kontrollieren. Ich war nicht nur völlig durchgeknallt, sondern auch hoffnungslos verrückt und brauchte so dringend einen Fick, dass ich mich praktisch auf das erstbeste männliche Wesen stürzte, das seit einem Jahr ein wenig Interesse an mir zeigte. Und das Schlimmste daran war, dass es sich bei ihm auch noch um einen Psychologen handelte – wenn jemand weiß, wie Wahnsinn aussieht, dann er!
Als ich die Wohnung betreten hatte, hatte ich mich im Spiegel gesehen. Mein Gesicht war nass vor Tränen gewesen, die ich, ohne es zu bemerken, vergossen hatte, als er mich küsste. Unter den Tränen waren meine Wangen feuerrot gewesen. Ich hatte nicht ausgesehen wie jemand, der gerade geküsst worden war, sondern eher wie eine, der man soeben den Laufpass gegeben hatte.
Was ja irgendwie auch stimmte.
Positiv daran war vielleicht, dass mich das von meinen Alltagssorgen abgelenkt hatte und ich es gestern geschafft hatte, nur einmal zu kontrollieren. Nur einmal!
Geschlafen hatte ich trotzdem nicht. Stundenlang hatte ich wach gelegen, hatte mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was er gesagt und was ich gesagt hatte, hatte versucht, jedes Wort zu analysieren, das signalisierte, dass ich ihm gefiel. Doch
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