Wohin du auch fliehst - Thriller
richtig zugezogen hatte, dass er mich zuerst gar nicht bemerkte. Ich überlegte kurz, im nächsten Eingang zu verschwinden, aber zu spät.
»Hi!«, sagte er unbeschwert und freundlich, was mich für einen Moment sprachlos machte.
»Hallo«, antwortete ich ganz außer Atem und wünschte mir, ich wäre ein wenig schneller gelaufen und vor ihm zu Hause gewesen.
»Ich wollte gerade was zum Frühstück holen. Willst du mitfrühstücken?«
»Äh – ich muss mich erst umziehen«, sagte ich lahm.
»Gut«, sagte er und warf einen Blick auf meinen durchnässten Trainingsanzug. »Zieh dir was Trockenes an und komm dann hoch in meine Wohnung. Eier und Speck, einverstanden?«
»Herrlich«, sagte ich.
Er lächelte mich an und ging an mir vorbei.
»Stuart«, sagte ich.
Er drehte sich mit dem Schlüssel in der Hand zu mir um.
»Ich wollte nur danke sagen. Wegen gestern Abend. Wegen – na, du weißt schon. Dafür, dass du nicht mit reingekommen bist und mich abgewiesen hast. Tut mir leid, aber ich fürchte, der Wein ist mir etwas zu Kopf gestiegen.«
Er wirkte verwirrt. »Ich habe dich nicht abgewiesen.«
»Was?«, sagte ich. »Nein?«
Er machte einen Schritt auf mich zu und legte seine Hand auf meinen Oberarm, so wie während meiner nächtlichen Panikattacke. »Nein, habe ich nicht. Ich habe dich nur nicht ausgenutzt.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Nein. Ich hätte dich niemals abgewiesen.«
Er lächelte mich an, und mein Herz klopfte wie verrückt, aber nicht vom Laufen. »Bis gleich«, sagte er dann und ging in Richtung High Street. Ich stand da, hielt den Atem an und sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war.
Donnerstag, 25. Dezember 2003
Beim Abendessen herrschte ein unangenehmes Schweigen. Lee hatte das Essen zubereitet – Truthahn, Bratkartoffeln, Bratensauce, ja es gab sogar ein Schälchen Preiselbeersauce. Er trug einen Papierhut, den er aus einer Crackerschachtel gezogen hatte, trank und ließ mich dabei nicht aus den Augen.
Ich war sauer, ohne genau zu wissen, warum. Ich hatte mich so auf Weihnachten gefreut und mir vorgestellt, wie schön es wäre, es nicht allein zu verbringen. Und nun wünschte ich mir beinahe, er wäre nicht hier. Ich überlegte, ob ich irgendetwas sagen konnte, damit er ginge, ohne gleich einen Streit anzuzetteln.
War ich sauer, weil er gesagt hatte, Frauen liebten es, hart rangenommen zu werden? Ich spürte dem Gedanken nach, doch er war nicht der Grund für meine Verärgerung. Vielleicht hatte er sogar recht. Es stimmte zwar, dass ich es nicht sonderlich genossen hatte, doch unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht ganz anders empfunden.
Nein, das war es nicht. Es war mehr das Gefühl, dass Lee das Kommando übernommen hatte.
Ich war hinaufgegangen, um mich umzuziehen, und wieder heruntergekommen, stand aber vor verschlossener Küchentür. Er sagte, dass wir die Geschenke erst nach dem Abendessen auspacken dürften. Also wurde ich mit einem Glas Champagner aufs Sofa verbannt und musste warten. Am Ende hatte ich mich in meiner eigenen Wohnung wie ein Gast gefühlt.
Für mich bestand die einzige Lösung des Problems darin, mich so gut es ging zu betrinken, worin ich deutliche Fortschritte machte.
»Es schmeckt herrlich«, sagte ich schließlich, aber eher, um die erdrückende Stille zu brechen.
Lee nickte. »Schön, dass es dir geschmeckt hat.« Er schenkte mir nach.
»Darf ich jetzt dein Geschenk aufmachen? Bitte?«, fragte ich, sobald auch er aufgegessen hatte.
Ich war so wackelig auf den Beinen, dass er meine Hand nehmen musste, damit ich überhaupt vom Tisch hochkam. Kichernd ließ ich mich vor dem Weihnachtsbaum nieder, und er setzte sich neben mich auf den Boden.
»Am besten, ich helfe dir!«, sagte er und reichte mir ein kleines, rechteckiges Geschenk, das wunderschön verpackt war.
»Nein«, sagte ich und griff ein wenig forscher danach als nötig. »Das schaffe ich schon alleine, vielen Dank.«
Weil ich zwischendurch immer wieder ein Glas Wein trank, dauerte es ewig, bis ich die Geschenke ausgepackt hatte – ein paar CDs von Leuten, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, ein Armband, das an meinem Handgelenk funkelte, ein neuer Ledergeldbeutel und ein silberner Füller, auf dem seitlich mein Name eingraviert war. Lee hatte ein paar Kerzen auf dem Kaminsims angezündet und trank seinen Wein langsamer als ich. Auch er packte seine Geschenke aus. Er hatte weniger als ich, aber auch nur, weil ich von den Mädels beschenkt worden war. In
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