Wohin du auch fliehst - Thriller
bevor ich die Wohnung betrat. Sie hatten die Tür offen gelassen, was mich unter anderen Umständen aus dem Konzept gebracht hätte, doch im Grunde war das ja nicht meine Wohnung.
Stuart stand in der Küche. Ich schloss die Tür hinter mir, ging durch den Flur und merkte, dass er mitten im Satz verstummte und mich ansah.
Ich kam um die Ecke, und da stand Alistair Hodge. »Ah, Sie sind sicher die wunderbare Cathy; ich habe schon viel von Ihnen gehört. Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«
»Es geht mir ausgezeichnet, danke. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ich gab ihm die Hand, nahm das Glas Wein, das er mir reichte, und wusste, dass ich die Dinge ganz ruhig angehen lassen musste.
»Setzen Sie sich zu mir, meine Liebe, vielleicht finden wir irgendwo ein wenig festliche Musik.«
Ich warf Stuart einen Blick zu, während Alistair mich ins Wohnzimmer führte. Er lächelte, zwinkerte mir zu und kümmerte sich dann weiterhin ums Essen.
Alistair war ein stattlicher Mann und wie ich vorzeitig ergraut. Er hatte einen dicken Bauch, der unter seinem Baumwollhemd spannte und über den Bund seiner braunen Cordhose quoll. Trotz seines Körperumfangs schien er erstaunlich leichtfüßig zu sein. Er sprang munter vom Sofa auf, um noch mehr CDs aus Stuarts Sammlung durchzuschauen.
»Stuart, mein Lieber, du hast ja gar keine Weihnachtslieder.«
»Schau doch, ob sie im Fernsehen welche spielen«, rief Stuart.
»Ich muss zugeben, dass ich auch keine Weihnachtslieder habe«, sagte ich.
»Ach, wie schade. Bei mir kommt gar keine Weihnachtsstimmung auf, wenn ich keine Weihnachtslieder höre.« Er zappte durch die Kanäle, bis er einen Knabenchor gefunden hatte. Die Münder der Kinder hatten sich engelsgleich zu einem perfekten »O« geformt, und ihre Brauen waren bis zum Haaransatz hochgezogen.
Meine Wangen begannen zu glühen. Ich hatte erst ein halbes Glas Wein getrunken.
»Wie geht es deiner Schulter?«, rief Alistair.
»Besser. Sie erholt sich langsam.«
Er beugte sich verschwörerisch vor. »Hat er Ihnen erzählt, was passiert ist?«
»Nur, dass ihn ein Patient in die Schulter getreten hat.«
»Ah, dann kennen Sie ja nur die halbe Geschichte. Das hätte ich mir denken können. Er ist so eine Art Held, unser Dr. Richardson. Er hat sich zwischen einen aggressiven Patienten und eine Krankenschwester geworfen. Er hat den Mann niedergerungen …«
»Er übertreibt mal wieder maßlos«, sagte Stuart, der plötz lich mit der Weinflasche auftauchte und uns nachschenkte.
»… und bändigte ihn mit einer Hand, bis Hilfe kam.«
Ich sah Stuart an.
»Normalerweise ist es nicht so schlimm«, sagte er. »Die meis ten Patienten, mit denen ich zu tun habe, können sich kaum rühren, so schlecht geht es ihnen. Sie werden nur selten gewalttätig.«
Alistair hob die Augenbrauen. Ich sah von einem zum anderen.
»Wie dem auch sei, Al, genug von der Arbeit. Ich glaube kaum, dass Cathy all die schrecklichen Einzelheiten hören möchte.«
»Hat er Ihnen von seiner Auszeichnung erzählt?«
»Nein«, sagte ich.
Stuart stieß einen empörten Laut aus und ging zurück in die Küche.
»Er hat den Wiley Prize für seine Forschungen auf dem Gebiet der Depressionstherapie bei jungen Menschen bekommen. Er ist der erste englische Psychiater mit dieser Auszeichnung. Die ganze Station ist sehr stolz auf ihn. Schon gut, schon gut, ich sag nichts mehr. Ich weiß schon, Stuart, dass du ihr nie davon erzählt hättest, deswegen musste ich etwas sagen.«
»Arbeiten Sie auf derselben Station?«, fragte ich.
»Oh, nein, nicht mehr. Ich arbeite im Zentrum für Angststörungen und Traumata. Ich bin in einem anderen Gebäude. Stuart arbeitet in der Notaufnahme einer Klinik, in der Depressionen und affektive Störungen behandelt werden. Er hat aber mit mir angefangen. Ein ziemlich cleveres Kerlchen.«
»Ich kann dich hören!«, rief Stuart aus der Küche.
»Ich weiß, mein Lieber, deshalb sage ich ja auch so nette Dinge.«
Alistair schenkte seine Aufmerksamkeit wieder der herrlichen Innenausstattung der Kings College Chapel in Cambridge. Ich dagegen ging zu Stuart in die Küche, um zu sehen, ob er Hilfe brauchte.
»Kann ich dir bei irgendetwas helfen?«
»Nein, ich habe alles unter Kontrolle.«
Schließlich ließ er mich wenigstens den Tisch decken, obwohl er so klein war, dass im Grunde nur zwei Personen Platz daran hatten, geschweige denn drei. Ich machte eine weitere Flasche Wein auf, die erste schien bereits leer zu sein. Alistair hatte
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