Wohin mit mir
Der Sohn sagt, die Schufterei habe bald ein Ende. Nächstes Wochenende, so hoffe er, könne er die Einweihung seines Büros feiern. Und Urlaub, frage ich. Vielleicht im September drei Tage an die Ostsee, entgegnet er.
Für den Abend bin ich mit Andreas verabredet, ich habe ihn zum Essen eingeladen. Gegen siebzehn Uhr treffen wir uns, wir haben viel Zeit, vor zwanzig oder einundzwanzig Uhr ißt man in Rom nicht. Wir schlendern den Corso hinab, bis zum Ende der Fußgängerzone, biegen dann in die Via di Ripetta ein, das Haus, an dem eine Tafel an Torquato Tasso erinnert. Am 26. April 1595 sollte er auf dem Kapitol zum Poeta Laureatus gekrönt werden, einen Tag zuvor, am 25. April 1595, starb er. Im Kloster Sant'Onofrio in Trastevere ist er bestattet. Erst Jahrhunderte später, 1857, errichtet man ihm ein Grabmal. Als Stendhal es besucht, erklärte er den Platz zum schönsten Ort des Sterbens.
Durch verwinkelte Gassen gelangen wir zur Piazza Navona, auf der ich noch nicht war. Ein langgestrecktes Rechteck, an der Nordseite abgerundet. In der Mitte der Vierströmebrunnen, die Fontana dei Quattro Fiumi, ein Hauptwerk Berninis. Eine theatralische Komposition, die Personifizierung der großen Ströme von vier Kontinenten: Donau, Rio de la Plata, Ganges und der sein Haupt verhüllende Nil. Letzteres, weil man über seinen Ursprung damals noch nichts wußte, wie man auch den fünften Kontinent noch nicht kannte.
Von der Piazza Navona aus biegt Andreas in eine
kleine Gasse ein, eine Überraschung, sagt er. San Luigi dei Francesi, eine Kirche, im Häusergewirr verborgen. Das Portal, wir treten ein. Andreas steuert durch das Kirchenschiff zu einer der Kapellen, zur fünften links. Er wirft ein Geldstück in den Schlitz des Kastens, das Licht geht an. Ein zweites Geldstück. Noch eines. Sprachlosigkeit. Drei Frühwerke von Caravaggio, im Alter von noch nicht dreißig Jahren zwischen 1599 und 1602 geschaffen. Ich hatte Andreas von den Caravaggios in Santa Maria del Popolo erzählt, zu denen ich immer wieder gehe. Hier nun: »Das Martyrium des heiligen Matthäus«, »Der heilige Matthäus mit den Engeln« und an der rechten Seite der Contarelli-Kapelle »Die Berufung des heiligen Matthäus«. Dieses Gemälde, sagt Andreas, befindet sich noch an derselben Stelle, wo es in Gegenwart des Malers aufgehängt wurde. Eine Zollstube, erkennbar an Geldsäckchen, Tintenfaß und aufgeschlagenem Kontobuch. Ein Zöllner sitzt am Tisch, mit ihm, wohl seine Gehilfen, Münzen zählende Knaben, ein stehender Mann, bekleidet mit einem pelzbesetzten Mantel, entrichtet gerade seinen Zoll. In die Geldstube tritt Christus mit einem seiner Jünger ein, seine Hand weist auf den Zöllner Levi (unter diesem Namen wird Matthäus im Markus- und Lukas-Evangelium eingeführt). Wie beim Paulus-Gemälde liegt auch hier die Quelle des Lichts außerhalb des Bildes. Aber das Licht ist ein handelndes, zielgerichtetes, es offenbart die geistige Dimension des Gemäldes. Vom Antlitz Jesu und der Zeigegeste seiner Hand fällt es in vollem Strahl auf den Zöllner Levi. Dieser fühlt die Berufung , ist im Begriff, sich zu erheben und Jesu
zu folgen. Die verschatteten Gestalten am Tischende dagegen gehen weiter ihren Geschäften nach, die Knaben, die im hellen Licht sind, wenden sich Jesus zu. Die dramatische Helldunkel-Modellierung konzentriert die Erzählung auf den einen Moment. Eine staunenswerte Virtuosität.
Als wir San Luigi dei Francesi verlassen, Austausch darüber, ob es wichtig sei, daß man vom Leben des Malers etwas wisse oder ob allein die Bilder zählen.
An der Ponte Mazzini überqueren wir den Tiber, laufen den Lungotevere della Farnesina entlang und sind im Stadtteil Trastevere. Das Tor zum Kloster Sant' Onofrio ist geschlossen. Auf Straßen und Gassen sind kaum Touristen. Daher fehlen auch die fliegenden Händler mit ihren auf die Erde gebreiteten Waren, ihren Che Guevara-Postern. Die Einheimischen beherrschen das Bild. Sie feiern den Ferragosto. Nicht zuletzt mit einem üppigen Essen. Ein kleines Lokal, die Mama kocht, der Wirt, ihr Mann, bedient die Gäste. Wir sind die einzigen Fremden. Um uns römische Familien. Aber nicht Vater, Mutter und Kind, sondern Großvater, Großmutter, Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen dazu; Tafeln zu zehn, zu sechzehn Personen. Die übliche Lautstärke. Assunzione Ferragosto , ruft ein älterer Mann und prostet uns zu.
Ich bin gelöst und übermütig. (Das Telefonat gestern, das heute.)
Der Heimweg. An der
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