Wohin mit mir
Ausgabe ihrer Werke. Ich verschlang alles. Über ihr Leben wußte ich wenig.
Nichts über die Bachmann in Rom.
Auf dem Stadtplan finde ich alle ihre römischen Wohnungen. Sechs oder sieben sind es. Fast alle liegen im alten Zentrum Roms.
Ischia, die Insel im Süden, ist Bachmanns erste Berührung mit Italien. August 1953, eine Einladung des Komponisten Hans Werner Henze. Schon wenig später aber zieht es sie in die Ewige Stadt. Sie ist achtundzwanzig und mietet eine erste Wohnung in Rom. Sie muß sie aus finanziellen Gründen aufgeben. Versucht es erneut. Auch ihr zweites Quartier an der Piazza Quercia 1 kann sie nicht halten. Für die dritte Wohnung, die sie Anfang 1957 in der Via Vecchiarelli 38 mietet, reicht das Geld nur bis zum Herbst. Ab 1966 lebt sie bis zu ihrem Tod fast ausschließlich in Rom. Anfang des Jahres mietet sie in der Via Bocca di Leone 60 eine Wohnung. La mia casa nennt sie sie emphatisch in einem Brief an Uwe Johnson. Und ich habe mich in diese Stadt so verbissen, nicht weil ich sie, was mir nur halb stimmt, sehr liebe, sondern weil sie mir dreimal genommen worden ist auf die unwürdigste Weise, und weil man von einem Ort nicht loskommt, in dem man soviel investiert hat. In der Wohnung Via Bocca di Leone lebt sie fünf Jahre, bis Ende 1971. Dann zieht sie in die Via Giulia 60 in den Palazzo Sacchetti. Ihre letzte Behausung. Ihr Brandunfall dort in der Nacht vom 25. zum 26. September 1973. Ihr Tod am 17. Oktober 1973.
Meine Neugier, was für ein Mensch verbirgt sich hinter diesem Werk? Ich betrachte Fotos; eine eigenartig schöne Frau, zart und zerbrechlich, aber zuweilen
die Gesichtszüge grob, fast männlich. Mitunter wirkt sie mondän. Der stark geschminkte Mund auf einem Foto von 1952, zusammen mit Paul Celan bei einer Tagung der Gruppe 47. Mit breiter Pelzstola, Perlenkette und Abendkleid in Zürich in der Kronenhalle, am Tisch mit Friedrich Dürrenmatt. Bei einer Wahlveranstaltung der SPD im September 1965 in Bayreuth mit Willy Brandt, Karl Schiller, Günter Grass und anderen.
Private Bilder. 1962 beim Schachspiel, von ihrem Bruder Heinz fotografiert. Im selben Jahr in Rom, ein Spiegelbild, in der Via Guiseppe de Notaris aufgenommen. 1965 zusammen mit Hans Werner Henze in Berlin bei den Proben zu seiner Oper »Der junge Lord«. Ein Foto von 1967, in Rom gemacht, Ingeborg Bachmann im Kostüm, das sie im Traum des Franz-Josef Murau in Thomas Bernhards Roman »Auslöschung« trägt. Ein Bild vom August 1968 am Tor des Ursulinen-Gymnasiums in Klagenfurt, ihrer Geburtsstadt. Eines in ihrer Küche in Rom in der Via Bocca di Leone, sie steht am Herd, liest Zeitung; in den Jahren zwischen 1966 und 1971 muß es aufgenommen worden sei. Und ein Foto, das mich besonders berührt. Es zeigt sie im großzügigen Portico des alten Palazzo Sacchetti in der Via Giulia 60, wo sie ihre letzte Wohnung hatte. Als kleine Gestalt im schwarzen Poncho ist sie rechts unten im Bild in Rückenansicht zu sehen, den Blick hat sie auf eine antike Statue im Treppenhaus gerichtet. Der Palazzo Sacchetti, der Ort, an dem der Tod in Gestalt des Feuers die steinernen Stufen emporklomm.
Ich lese über sie. Ein Mythos sei die Dichterin schon zu Lebzeiten gewesen, so Heinrich Böll. Und: War Ingeborg Bachmann nicht gefangen in dem Bild, das andere sich und andere aus ihr gemacht haben?
War sie die lebensuntüchtige, fragile Mädchenfrau, die ständig Signale ihrer Hilflosigkeit an die Männer aussandte, sie damit zu Beschützern avancieren ließ, oder setzte sie ihre Weiblichkeit in einem von Männern dominierten Literaturmarkt gezielt ein, verbarg ihr Können, ihre hohe Intellektualität? Ist, was Ingeborg Bachmann über Maria Callas schrieb, auch auf sie übertragbar? Sie war immer die Kunst, ach die Kunst, und sie war immer ein Mensch, immer die Ärmste, die Heimgesuchte, die Traviata … War die Weiblichkeit, die sie sich als Rolle auf den Leib schrieb, letztlich das Nessushemd, das sie erstickte, verbrannte? Wurde sie vom Abgrund zwischen Schreiben und Leben verschlungen?
Sie, die große Liebende, die Liebesdurstige. Hat Marie Luise Kaschnitz in ihrem Ingeborg Bachmann gewidmeten Gedicht »Via Bocca di Leone« ihr Geheimnis enthüllt mit den Zeilen:
Die Männerschuhe störten dich im Schrank
Aber du konntest nicht atmen ohne Liebe.
Ihre unglücklichen Lieben. Die zu Paul Celan. Zu Max Frisch. In Paris lernt sie Max Frisch 1958 kennen. Schon bald zieht sie nach Zürich, wo Frisch lebt. Und wieder kommt die
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