Wohin mit mir
die Kajüte, mit dem Zusatz: Wir brauchen dich noch. Alles lacht. Als ich nicht reagiere, zieht mich Ulla Berkéwicz neben sich auf die im Windschatten liegende Bank. Der Verleger ist zufrieden.
Als wir für Momente allein sind, erzählt Ulla mir vom Tod ihres russisch- jüdischen Arztfreundes in Amsterdam, der so vielen Tschernobyl-Opfern geholfen hat und nun selbst mit einundvierzig Jahren an der Strahlenverseuchung zugrunde ging. Sie ist bei ihm gewesen, als er starb. Er habe ihr die Angst vor dem Tod genommen. Es sei für sie ein Geschenk gewesen. Wir schweigen. Und ich denke an ihre, mir so nahe erste Erzählung »Josef stirbt«.
Ohne Übergang fragt sie mich: Wie feierst du deinen Erfolg? Ich entgegne, indem ich ein neues Buch schreibe. Ja gut, sagt sie, das ist unsere normale Existenzform,
das verstehe ich. Aber es muß noch ein Extra geben. Etwas, womit du dich belohnst. Ich hebe die Schultern. Was würdest du gern tun, insistiert sie. Mir fällt nichts ein. Aber plötzlich sage ich, mein Kindeskind sehen, das würde ich gern. Dann besorgst du dir morgen ein Flugticket nach Deutschland, erwidert sie. So einfach ist das. Wirst du es tun? Du mußt es tun.
1. Oktober
Zurück in Rom.
Gespräch mit dem Sohn. Im Reisebüro Kauf eines Flugtickets. Am 14. Oktober werde ich nach Deutschland fliegen.
Wir können endlich intensiv über das Lappland-Buch sprechen, war Joachims letzter Satz am Telefon. Seit Sperlonga habe ich nicht mehr geschrieben, die am Meer entstandenen Textideen und die in der Lagunenstadt hinzugekommenen schwirren in meinem Kopf, wollen aufs Papier. Das Telefonat, die Aussicht auf Verständigung. Heftige Schreiblust.
Aber ich erwarte heute – lange geplant – meine Freundin aus Berlin. Mit neunundfünfzig Jahren ist sie in den Vorruhestand gegangen, lange Zeit war sie Leiterin eines Puppentheaters, nach der Wende Museumsdirektorin im Harz. Gestern war ihr letzter Arbeitstag. Die Zäsur. Rom hat sie sich für den Neubeginn gewünscht. Zehn Tage wird sie hier sein. Sie kennt mich und meinen Rückzug ins Alleinsein; meinen Zeitgeiz , wie sie es nennt. Aber ich möchte auch für sie da sein. Wie kann ich ihre Anwesenheit und mein Schreiben verbinden?
10. Oktober
Die Freundin fliegt nach Berlin zurück. Fünf von den zehn Tagen haben wir gemeinsam verbracht.
An einem der ersten Tage sind wir durch das Forum Romanum gewandert. Die Freundin, kaum achtundvierzig Stunden in Rom, führt mich, die nun über ein Vierteljahr in der Stadt lebt, mit einem Lageplan in der Hand durch das weite Gelände. Sie, die sich schon immer für Architektur begeistert hat, ist gut vorbereitet. Titusbogen, Vespasiantempel, Quelle der Juturna, Rundtempel der Vesta, Triumphbogen des Septimius Severus.
Mir gelingt es nicht, mich zurückzuversetzen. Ich beobachte italienische Schülergruppen (schon Sieben- und Achtjährige sind dabei), wie sie ihren vorgeschriebenen Pflichtmarsch durch das steinerne Lehrbuch der Geschichte absolvieren. Sehe die ausländischen Touristen, überwiegend ältere Leute; ihre Blicke sind nicht auf die Reste der antiken Bauwerke, sondern auf ihren Führer gerichtet. Dann laufen sie, miteinander redend, den hochgehaltenen Schirmen hinterher, um sich erneut um den Erklärenden zu scharen.
Meine begeisterte Freundin. Das Ur-Rom, die Antike, die Spätantike. Ich denke an Theodor Fontane, der 1874 aus der Ewigen Stadt schreibt: Das Trümmer-Rom interessiert mich hundertmal mehr als das, was steht und prunkt. Fontane kam zu einer Zeit, da die Ausgrabungen auf dem Forum Romanum in vollem Gange waren. Erst 1804 hatten sie begonnen, bis 1813 wurden sie fortgeführt, 1870 dann war der Höhepunkt. Bereits im Mittelalter aber war die einstige Pracht schon
völlig zerstört, das Trümmerfeld diente ausschließlich als Steinbruch. Noch im 19. Jahrhundert war es eine Viehweide, campo vaccino genannt, Goethe erlebte sie noch als solche. Mir wäre auch das Gras einer Weide jetzt recht, ich würde mich unter einen der Bäume legen und in den Himmel schauen.
Am nächsten Tag fahren wir bei schönstem Oktoberwetter mit dem Vorortzug nach Roma Ostiense Antica hinaus. Wieder die enthusiastische Freundin. Diesmal – ich bin ausgeruht – gelingt es ihr, mich anzustecken. Die zauberhaften Details auf den Mosaikfußböden. Wir nehmen uns viel Zeit. Sitzen lange auf einer der gewaltigen Treppen, blicken hinab. Versuchen, den ursprünglichen Zustand zu simulieren, lassen die Mauerreste wachsen und die
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