Wohin mit mir
neugierige zu meiner Person. Eine ältere Dame, Römerin, erzählt mir, seit der Existenz dieses Hauses komme sie zu jeder Veranstaltung. Sie sieht mich prüfend an, sagt dann: Sie müssen einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein. Ich bin schockiert. Es soll offenbar ein Kompliment sein.
Ich halte nach meinen Freunden Ausschau. Anna und Fulio sind da. Auch Baschal ist gekommen. Ich treffe die drei im Flur; sie wirken ein wenig verloren. Ich mache sie miteinander bekannt. Und mit zwei der umstehenden Germanisten. Bringe sie dann zum Büfett.
Heute die zweite Lesung in der Casa. Auf italienisch »Cornelia Goethe«. Meine Übersetzerin Mirella Torre aus Mailand. Ihre warme, volle Stimme, sie liest phantastisch. Und ihre Übersetzung trifft genau meinen Sprachrhythmus.
28. Oktober
Gestern abend die Idee, die Geschichten im Lappland-Buch aus der Perspektive eines fiktiven Wanderers zu erzählen.
Die dritte Lesung, in der Aula der deutschen Schule in Rom. Ehe ich beginne, sage ich, das Zuhören sei freiwillig, wer die Lesung nicht möchte, habe jetzt Gelegenheit zu gehen. Ein Moment Verwunderung, Zögern. Dann erheben sich zwei junge Männer. Der Direktor schreitet ein. Es käme nicht in Frage, er habe die Aufsichtspflicht. Er nennt Paragraphen. Ich unterbreche ihn, die Schüler klatschen Beifall. Er spielt seine Autorität aus, ein scharfer Disput zwischen ihm und den Schülern. Dann auch zwischen ihm und mir. Er hat mir gegenüber den gleichen unangenehm belehrenden Ton wie im Gespräch mit seinen Schülern. Buhrufe für ihn. Dann übernehmen wieder die Schüler die Angreifer-Rolle. Ein wahrer Schlagabtausch. Da drängt wohl
einiges an die Oberfläche, was schon lange schwelte. Ich lehne mich zurück und warte, was passieren wird. Die zunehmende Lautstärke des Schulleiters zeugt von seiner Erregung. Soll ich es auf die Spitze treiben, die Lesung verweigern? Während ich das noch überlege, retten die beiden Schüler, die bereits mit ihren Jacken an der Tür stehen, die Situation. Sie würden freiwillig bleiben, erklären sie.
Während der fünfzig Minuten der Lesung vollkommene Aufmerksamkeit, man könnte eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Ich bin beglückt, sehe immer wieder vom Buch auf, sehe in die jungen Gesichter. Danach Fragen zum Text, die bezeugen, sie haben das Gehörte auf ihr eigenes Leben bezogen. Die interessantesten kommen von den beiden jungen Männern. Der Direktor bedankt sich steif; ich stehe noch umringt von den Schülern am Lesetisch, da verläßt er den Raum.
Abends mit Mirella und ihrem Mann im Restaurant »L'Angoletto« an der Piazza Rondanini nahe der Chiesa di Santa Maria Maddalena. Ein phantastisches Menü. Ein freundlicher Kellner, wenn er lacht, sieht man, er hat nur noch zwei Zähne. Mirella und Ferruccio laden mich nach Mailand und für ein Wochenende in ihr Sommerhaus nach Cerro am Lago Maggiore ein.
Meine mehrfache Überlegung, den Rom-Aufenthalt abzubrechen, hat sich seit Venedig verflüchtigt. War es Ulla Berkéwicz mit ihrem Rat? Aus Rom wegzureisen, zu fliehen ist auch eine Möglichkeit, dem Lärm zu entgehen. Ich nehme Mirellas und Ferruccios An
gebot an. Und ebenso für Dezember Einladungen zu Lesungen in Perúgia, Genua und Palermo.
29. Oktober
Preßlufthämmer im Nebenhaus. Ich ziehe mich ins Museum, in den hintersten Raum mit dem Zitronenbaum zurück. Rom läßt die Sinne in alle Winde fahren, bringt mich nicht zu mir selbst.
Der lange Vormittag. Das Papier bleibt leer. Der Mann aus dem Traum.
Haben sich die Männer in meinem Leben überflüssig gemacht, habe ich nicht schon aufgegeben?
Seit gestern ist die Alarmanlage defekt. Große Aufregung. Domenico soll die Nacht über hierbleiben. Ich räume das kleine Zimmer. Dann aber stellt die Sicherheitsfirma einen Mitarbeiter. Ich wittere die Chance zum Ausschlafen, wenn ich mir die Ohren verstopfe. Sage ihm, wann die Putzfrau kommt. Und schlafe tatsächlich bis 8 Uhr. In der Nacht ein wilder Traum, der Mitarbeiter der Firma ist ein Mafiosi, ich werde vor Gericht gestellt.
30. Oktober
13 Grad. In Cerro in einem Märchenbett erwacht. Das Feuer gestern abend im Kamin. Ich stoße das Fenster auf: ein Märchengarten. Und die stille Fläche des Lago Maggiore, nebelverhangen. Gegenüber soll eine Kette von Bergen liegen. Wir sind angekommen, als es bereits dunkel war.
Ich bleibe im Bett. Unter mir werden Türen geöffnet
und geschlossen. Tellergeklapper ist zu hören. Und näher und
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