Wohin mit mir
ferner, irgendwo in dem weiträumigen Haus, im Wechsel die Stimmen von Mirella und Ferruccio.
Frühstück im großen Zimmer. Dann gehört der Tag mir. Die Steinstufen im Garten sind von Kastanien und deren aufgeplatzten stacheligen Hüllen bedeckt; die Herbstfärbung der Blätter, die Rot- und Brauntöne. Riesige alte Bäume. Das Nachbargrundstück. Sein Besitzer war, wie mir Ferruccio erzählte, der Filmregisseur Luchino Visconti. Bis zu seinem Tod sei er oft hier gewesen. Ich höre die Melodie aus seinem Film »Der Leopard«, sehe den alten Fürsten Salieri, verkörpert von Burt Lancaster; die großartige, nicht enden wollende Ballszene: Den alten Fürsten hält der Tod schon im Arm, spielt ihm auf, ein abschiednehmender lebenssprühender Totentanz.
Die Stufen führen zum See hinab. Unten eine kleine Pforte. Als ich hinaustrete, stehe ich am Lago Maggiore. Unwirklich scheint mir alles. Noch immer liegt dichter Nebel über dem See. Aber die Sonne ist zu ahnen. Und wie auf einem chinesischen Gemälde beginnen sich langsam Umrisse abzuzeichnen; schließlich erscheint Gipfel um Gipfel, und das gesamte Panorama der gegenüberliegenden Bergkette liegt vor mir.
Auf der Fahrstraße ins Dorf. Einen Fußweg gibt es nicht. Überall Privatvillen mit hohen Zäunen. Sobald man stehen bleibt, Hundegebell, wütend springen sie am Zaun hoch. Hören nicht auf zu kläffen. Niemand ruft sie zurück. Stehen die Häuser leer? Im Dorf eine Feldsteinkirche aus dem 10. Jahrhundert. Gestutzte Platanen an der Standpromenade. Granatapfelbäume und
hohe Spaliere voller Kiwis. Lavendel und Rosmarin. Weymouths-Kiefern, Fächerpalmen, Zypressen mit ihren zapfenförmigen Früchten. Nach der Rückkehr aus dem Dorf erneut im Garten.
Am Abend im Märchenbett aus Eisen mit den schönen Verzierungen am Kopfende. Mirella schlief als Kind darin, es ist das Bett ihrer sizilianischen Großmutter.
Ich wollte beim Kochen nützlich sein. Lies, sagt Mirella, denke über ein neues Buch nach, das ich übersetzen kann. Die Geräusche unter mir, Topfdeckel klappern, hin und wieder surrt ein elektrisches Gerät, einmal heult eine Küchenmaschine auf. Was wird da gebraut? Beide kochen, aber nur Mirellas Stimme ist zu hören, ihr ungeduldig befehlendes Ferruccio und, offenbar, wenn er etwas zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt hat, die Koseform, ihr zärtlich helles Ferri .
Kurz nach zehn der Ruf, das Essen ist fertig. Wir sitzen am Feuer.
31. Oktober
Una giornata magnifica – che bello. Ferruccio machte am Morgen das Boot klar, ließ es ins Wasser. Er ruderte uns über den See. Die Sonne schien, es war warm, das Wasser, eine völlig glatte Fläche, wirkte wie mit leichtem Öl überzogen. Wir legten in Polenzo an; es soll der wärmste Ort am Lago Maggiore sein. Schlenderten die Uferpromenade entlang: Magnolien, Oleander, Kamelien, übervoll von Blüten, und das Ende Oktober. Ringsum die Berge. Eisessen, Sonnen auf einer Bank. Auf der Rückfahrt die drei Borromäischen Inseln, Ferruccio, der sich nicht ablösen lassen will, um
rundet sie. Isola Madre, Isola dei Pescatori. Auf der dritten, der Isola Bella, ein barocker Garten mit zehn übereinanderliegenden Terrassen voller Blumen und seltener Pflanzen. Seit dem 16. Jahrhundert sei die Insel im Privatbesitz der Familie Boromeo. Arturo Toscanini sei oft hier gewesen.
1. November
Ein Feiertag: Ognissanti, Allerheiligen. Mirella ordnet die Fotos des vergangenen Jahres. Ferruccio sitzt am Computer. Er hat außer seiner Stelle als Oberarzt in einem Klinikum noch eine zweite als Pharmazieberater.
Den Tag für mich. Stundenlang hocke ich im Garten. Reglos. Der Lago Maggiore. Der Wechsel des Lichts auf dem See. Die ziehenden Wolkenformationen, die sich in ihm spiegeln. Die Veränderung der Farben, das Changieren des Blaus, von einem schattigen Graublau bis zu einem satten Dunkel; das Rostrot und das verblichene Tizianrot, mit dem die Sonne die Wasserfläche färbt. Geräusche, vereinzelt Ruderschläge, auf dem Wasser aufsetzende Vögel. In der Ferne Bootsmotoren. Am Himmel ab und an Vogelzüge. Die Ameisen, die eine Straße über meine Schuhe ziehen. Die Ereignisse eines ereignislosen Tages.
Am Abend fahren wir nach Mailand zurück. Ferruccio muß wieder in sein Krankenhaus, Mirella, die Lehrerin ist, in ihre Schule. Stau auf der Autobahn.
2. November
Milano, Mailand. Allein ein Bummel durch die Stadt. Der Domplatz, wo , so Julian Green, die Fassaden sich die großen Arien Aidas entgegen
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