Wohin mit mir
ausgenommen die Gestalten von Judas, Petrus, Johannes und Jesu. 1770 machte Mazza, der nächste Restaurator, den ersten Versuch wieder rückgängig, mit einem Schabeisen kratzte er die Ölfarbe ab. Weitere fünf Restaurierungen folgten; in sie flossen die Auslegungen und Interpretationen der jeweiligen Zeit ein, mitunter wurde der Ausdruck von Gesichtern und Körperhaltungen verändert. Hinzu kamen äußere Einflüsse, die dem Gemälde schwer zusetzten, zur Zeit Napoleons hausten Soldaten in Santa Maria delle Grazie, im Zweiten Weltkrieg wurde das Refektorium im August 1943 durch einen Bombenangriff der Alliierten fast völlig zerstört.
Welcher Mut, Schmutzschichten, Schimmel und die Kruste von Firnissen und Übermalungen von fünfhundert Jahren abzutragen, in der Hoffnung, darunter noch Reste der Originalpigmente zu finden. Welche Geduld. Pinin Brambilla Barcilon heißt der Mann, der – gemeinsam mit seinem Team – mit den ihm zur Verfügung stehenden modernen Mitteln in minutiöser Restaurierungsarbeit dem Gemälde zu Leibe ging.
Ich erinnere mich an das »Abendmahl«, das über meinem Bett hing, als ich ein Kind war. Zuweilen zählte ich vor dem Einschlafen die Jünger, die statuarisch aufgereiht an einer langen Tafel saßen. Oder ich ging ihre Namen durch: Bartholomäus, Jakobus der Jüngere, Pe
trus, Johannes, Judas Ischariot, Andreas, Thomas, Jakobus der Ältere, Philippus, Simon Zerlot, Matthäus und Judas Thaddäus. Der in der Mitte sitzende Jesu, der seine Hände nach beiden Seiten breitete, war mir der liebste, er hatte langes Haar, sah sanft aus, fast wie ein Mädchen. Das Bild mochte ich auch deshalb, weil es den Makel der Gottlosigkeit von mir nahm. Bei einem Kindergeburtstag hörte ich eine meiner Mitschülerinnen mit Blick auf die kleine Reproduktion zur anderen sagen: Sie ist doch nicht ungläubig .
Das Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie. Die Kasse. Kopfschütteln. Aber ich solle warten. Eine halbe, eine dreiviertel Stunde vergeht. Eine einzige der bestellten Karten wird nicht abgeholt. Ich bekomme sie. Es werde nichts erklärt, gebe keine Führung, sagt die Aufseherin, die die Gruppe begleitet. Dann wiederum Warten vor einer Tür. Sie öffnet sich, einzeln und sehr langsam kommen – ich zähle – zwanzig Menschen heraus. Wir dürfen eintreten.
Die Intimität des Raums. Die Abwesenheit von leeren Flächen nehme ich als erstes wahr. Gedämpfte, an einigen Stellen aufleuchtende Farben. Die Erregung der Jünger, die wie eine Welle das Gemälde durchströmt, sich an dem in der Mitte sitzenden, in sich ruhenden Jesu bricht, zu wirbelnden Kreisen in den Dreiergruppen der Jünger wird. Die hin und her wogenden Gestalten; eine faszinierende Choreographie von Händen, Kopfbewegungen und Körperhaltungen.
Jesu, als einziger dem Betrachter zugewandt, die Augen gesenkt, still dasitzend, ist der Auslöser der Erre
gung. Greift seine Hand nach dem Bissen, um Judas, den Verräter, zu überführen: Der ist es, dem ich den Bissen eintauchen und geben werde. Nein, beide Hände sind leicht erhoben. Von der rechten ist die Handfläche zu sehen, eine Geste, als spräche er. Es muß der Augenblick davor sein, die Ankündigung des Verrates, jenes: Unus vestrum me traditures est. – Wahrlich, wahrlich ich sage euch: einer von euch wird mich verraten.
Der Schock daraufhin. Abwehrend hebt einer die Hände, einem anderen kommt ein unterdrückter Seufzer aus dem Mund, einer mit traurigem Gesicht Jesu zur Rechten – es könnte Philippus sein – legt, als wolle er seine Unschuld beteuern, seine Hände an die Brust. Die Jünger im Moment der höchsten Krise, aufgestört redend, gestikulierend. Wo ist Judas Ischariot und wo Judas Thaddäus? Und wer ist der am Ende der Tafel, dessen Gesicht kaum erkennbar ist?
Unsanft faßt mich jemand an der Schulter. Jäh werde ich aus meiner Betrachtung gerissen. Ich blicke mich um, sehe, die anderen stehen bereits an der Tür. Mahnung, mich zu beeilen; unbarmherzig werden wir alle aus dem Refektorium nach draußen gewiesen. Genau fünfzehn Minuten Besichtigung sind für jede Gruppe vorgesehen.
Ich bin wie benommen. Heftiger Regen, als ich das Kloster verlasse. In einem nahe gelegenen Café blättere ich in dem in Santa Maria delle Grazie gekauften Buch. Was habe ich alles nicht gesehen! Die Lichtführung in dem Gemälde, die Lünetten über dem Bild,
den von Leonardo geschaffenen illusionistischen Bühnenraum, der breiter als das wirkliche Refektorium ist. Ich
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