Wohin mit mir
einer knappen Viertelstunde zu erreichen. Ich begleite sie dorthin, und wir verabschieden uns.
Die anderen Abende, auch die, an denen die Freundin tagsüber allein unterwegs ist, essen wir meist zusammen, lassen den Tag auf dem Balkon der Casa di Goethe ausklingen. Neben uns flattert die rote Fahne. Der 7. Oktober, »Tag der Republik«. Heute hätte die DDR , wäre sie nicht in den Abgrund gestürzt und auf Nimmerwiedersehen verschwunden, ihren 50. Jahrestag begangen. Wir weinen ihr keine Träne nach. Aber wir sprechen auch nicht mit Bitterkeit von ihr; im Gegenteil, fast mit einem Anflug von Zärtlichkeit. Es war unser Leben; das ihre vom zehnten bis zum fünfzigsten Jahr, das meine vom neunten bis neunundvierzigsten Jahr.
Ist auf gute Weise Abschied zu nehmen nicht Voraussetzung einer Ankunft? Sind wir angekommen in dem neuen Staat? Die Chance eines zweiten Lebens, wer hat die schon, du hättest deinen Schreibort im hohen Nor
den nicht gefunden, ich wäre nicht in den Süden gekommen, sagt die Freundin. Aber zur äußeren Freiheit, daß die einst nur nach Osten passierbaren Tore nun nach allen vier Himmelsrichtungen offen stehen, muß die innere kommen: das Zu-sich-Finden, Bei-sich-Sein.
An den Tagen, da die Freundin allein unterwegs ist, sitze ich in der Casa di Goethe im kleinen Zimmer zum Hof hinaus, das Papier auf dem improvisierten Tischchen, die Füße auf der Plasteschüssel. Obgleich der Raum der Eingangstür zum Museum schräg gegenüber liegt, das Klingeln der Besucher, ihr Hereinkommen und die Stimmen von Massimiliano und Domenico an der Kasse zu hören sind, ist er doch für mich ein Schreibort geworden. Am frühen Nachmittag dann übertrage ich in meinem Zimmer das Handgeschriebene in den Computer.
Anruf vom Verlag. Seit dreizehn Wochen sei »Christiane und Goethe« ununterbrochen auf Platz eins der Spiegel-Liste. Jetzt folge Reich-Ranicki mir unmittelbar auf den Fersen. Mir werden Verkaufszahlen genannt, und ich denke an Michael Naumanns Wort, davon könne ein Verleger nur träumen. Venedig und Siegfried Unseld sind vor mir. Mein Gefühl, zwei Zentimeter über dem Boden zu schweben. Ein Erfolg? Ein Verkaufserfolg. Nach zwanzig Jahren Schreiben erlebe ich das erstmals. Warum nicht bei »Vögel, die verkünden Land«, dem mit Abstand besten meiner Bücher? Was muß alles für einen Erfolg zusammenkommen? Ein Jubiläum, der Zufall, ein großer Name? Viele kennen Goethe, aber
nicht Lenz, trotz Büchners berühmter Anfangszeile Lenz kam übers Gebirg … Der arme Jakob Michael Reinhold Lenz, der immer im Schatten bleiben wird.
Extralebensluft nennt Eduard Mörike das Geld. Dieser Erfolg schafft mir Extralebensluft , gibt mir nach zwanzig Schreibjahren eine Sicherheit; nur mit dieser kann ich mich an das Lappland-Buch-Experiment wagen.
Seltsamer Zwiespalt: In dem Moment, in dem ich einen Stift zur Hand nehme, ist die Ruhe und Weite der nordischen Landschaft in mir. Rom scheint wie ausgelöscht. Als schalte man einen Monitor aus, auf dem tausend Programme gleichzeitig laufen. Alles Gesehene und Erlebte verliert Farbe und Gestalt. Wird es für immer verloren sein, oder ist es in mir gespeichert und irgendwann wieder aufrufbar? Ist Schreiben versäumtes Leben? In der Sprachhöhle die Sehnsucht danach und umgekehrt. Warte ich nicht an den Abenden ungeduldig auf die Freundin, begierig auf ihre Berichte, fast ein wenig neidisch auf das, was sie erlebt. Ihre ansteckende Begeisterung, Wißbegier, Dankbarkeit. Bin ich nicht in den Tagen mit ihr und durch sie der Ewigen Stadt etwas nähergekommen?
Laß dich doch fallen, genieße Rom, sagt sie. Dein Buch über Lappland läuft dir nicht weg. Hast du nicht immer von einem halben Jahr Nichtstun, nur Sehen, Aufnehmen gesprochen?
An unserem letzten gemeinsamen Tag die Caravaggios in San Luigi dei Francesi, in Santa Maria del Popolo.
Der Monte Pincio. Ein Umweg im Park der Villa Borghese; die kopflose Frau mit den schönen Gewandfalten. Schließlich zur Casa di Raffaello. Goethe habe sie für ein heilig Monument gehalten, erzähle ich, wo Raffael an der Seite seiner Geliebten den Genuß des Lebens aller Kunst und allem Ruhm vorzog . Aber Raffael hat dieses Haus weder besessen noch je bewohnt. Wie auch der Schädel, der in Rom wie eine Reliquie verehrt wurde, nicht der Raffaels war. Goethe: Der Schädel ist von der schönsten Bildung und ich halte ihn ächt … Ein trefflicher Knochenbau, in welchem eine schöne Seele bequem spazieren konnte .
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