Wohin mit mir
schmettern , die höchste Turmspitze über die Herde der vielen wie gotische Schafe gekräuselten Strebe- und Stützsäulen wacht. Im Inneren im Halbdunkel die Pfeiler und Bögen, der gewaltige Raum. Ich setze mich. Eine Gruppe von etwa zehnjährigen Jungen, alle mit großen Rucksäcken, in der üblichen Kleidung: Markenturnschuhe, kurze Hosen, Nickis mit Werbung. Sie nehmen zwei Bankreihen vor mir Platz. Überrascht verfolge ich ihre Verwandlung. In kürzester Zeit und in völliger Lautlosigkeit ziehen sie sich um. Werden zu Ministranten. Der tiefe Ernst in ihren jungen Gesichtern. In den bis zur Erde reichenden, mehrfach übereinandergezogenen Gewändern schreiten sie, ihre Rucksäcke auf den Bänken zurücklassend, dem Chorraum zu, die Tür zur Sakristei verschluckt sie.
Wieder zu Hause. In Mirellas kleinem Zimmer, in dem ich mich wohlfühle. Unsere Gespräche in der Küche. Mirellas Kindheit auf Sizilien, die Nähe zu ihrer Großmutter. Die Spannungen zu ihrer Mutter, die mit den Jahren stärker werden, jetzt im Alter – sie lebt in Milano – ein schwer erträgliches Ausmaß annehmen. Die Parallelität in unseren Biographien.
Anruf meiner Lektorin aus Leipzig. Die 19. Auflage müsse schnell kommen, ob ich Korrekturen hätte. Ja, sage ich, aber ich bin in Mailand, habe mein Buch
nicht bei mir. Wir können keinen Tag mehr warten, entgegnet sie mit einem Vorwurf in der Stimme. Ich beziehe ihn nicht auf mich; eher auf das nicht unkomplizierte Verhältnis zwischen Frankfurter Haupthaus und Leipziger Niederlassung.
Mirella legt, wie die meisten Italienerinnen, viel Wert auf ihr Äußeres. Sie zeigt mir ihren Schrank voller Kleider. Sie trägt Hüte. Was ich nie tue. Vor dem Spiegel probiere ich ihre gewagten Kopfbedeckungen. Ein kleiner Hut mit Schleier steht mir.
Die Abende hat Mirella verplant. Heute ins Theater, eine Inszenierung von Georgio Strehler. Für morgen sind Gäste geladen, ein Architekturprofessor aus Karlsruhe, ein Lektor vom Verlag Einaudi. Und für den letzten Abend ist ein Besuch der Scala vorgesehen. Keine Opern, leider, es sind Theaterferien, aber du mußt das Haus unbedingt sehen, das »Ensemble Strumentale Scaligero« werde Gershwin und Astor Piazzolla spielen, sagt sie.
3. November
Heute: Santa Maria delle Grazie, Leonardos »Abendmahl«. Es ist aussichtslos, sagt Mirella, Wochen im voraus sind die Karten ausverkauft.
Seit wenigen Monaten erst ist das Gemälde der Öffentlichkeit wieder zugänglich. Nach über zwanzig Jahren. Ablagerungen von Jahrhunderten wurden beseitigt, vor allem aber die insgesamt neun Restaurierungseingriffe, die das »Abendmahl« veränderten, rückgängig gemacht.
Und das fünfhundert Jahre nachdem Leonardo den Pinsel aus der Hand legte. Die ehrgeizige Restaurierung hat zwanzig Milliarden Lire verschlungen, das sind umgerechnet zehn Millionen Euro. Achtzig Prozent des Gemäldes sind unwiderruflich verloren, lese ich. Ein Fragment also. Eine leere Fläche, auf der Reste einer alten Bemalung aufleuchten, wie es zuweilen auf den weißgetünchten Gemäuern von Gotteshäusern zu finden ist? Das Abendmahl ein Geisterbild?
Das Schicksal des Bildes. Leonardo schuf es nicht in der traditionellen buon-fresco-Technik, bei der die Farben direkt auf den nassen Putz aufgetragen wurden. Als Grundierung diente ihm eine grobe untere Schicht von Kalziumkarbonat, Schlemmkreide, darauf trug er eine feinere Schicht aus Bleiweiß auf. Zum Malen verwendete er eine Mischung aus Tempera und Öl. Das ermöglichte ihm, langsam zu arbeiten und mitunter noch zu korrigieren. Von einem Novizen des Klosters ist überliefert, daß da Vinci an manchen Tagen von der Morgenfrühe bis nach Sonnenuntergang ununterbrochen arbeitete, daß er aber auch zuweilen kam, aufs Gerüst stieg und nur wenige Pinselstriche ausführte.
Bereits zwanzig Jahre nach der Vollendung wellten sich Teile der Grundierung, Farbe begann abzublättern; 1550 spricht Vasari von einer wirren Ansammlung von Flecken . War es die Feuchtigkeit des Mauerwerks im Refektorium des Klosters, oder war die Empfindlichkeit des Bildes vom Maler selbst mitverschuldet?
Der rasche Verfall führte zum einen dazu, daß bereits sehr zeitig Kopien angefertigt wurden (vermutlich auch von Malern, die als Leonardos Gehilfen an
der Entstehung des Originals beteiligt waren), zum anderen, daß Restaurierungen ungewöhnlich früh einsetzten. Bereits 1726 wurde von einem Mann namens Bellotti die gesamte Bildfläche mit Öl übermalt;
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