Wohin mit mir
lese von seinen Bemühungen um Dreidimensionalität, von den perspektivischen Schemata, den bei der Rekonstruktion entdeckten Linien, die er in die Komposition eingeritzt hat, von dem kleinen, in den Putz gestanzten Fluchtpunkt an der Schläfe Christi. Die Kassettendecke im Bildraum ist eine Überarbeitung des 18. Jahrhunderts geblieben, ebenso wurden die dicken Übermalungsschichten von den Wandteppichen nicht abgetragen. Auch der Kopf von Judas Ischariot ist eine Rekonstruktion, lediglich die jüngeren Farbschichten wurden abgetragen, damit er dem Original näherrückt.
Abbildungen. Details, der halbgefüllte Becher mit Wein, das filigrane Gewebe des Tischtuchs, das Messer, das Petrus in der Gefühlswallung des Augenblicks wie eine Waffe hält, die Girlanden aus Früchten und Blättern in den Lünetten mit ihrer symbolischen Bedeutung. Der junge Mann mit dem traurigen Gesicht ist in der Tat Philippus, neben ihm, der mit dem offenen Mund, ist Jakobus der Ältere, der mit den wie zur Abwehr erhobenen Händen ist Andreas. Leonardos Bruch mit der aus dem Mittelalter überkommenen Tradition, in der die Jünger als lineare Gruppe hinter der Tafel angeordnet sind. Die Entstehung des Bildes fällt in eine seiner fruchtbarsten Schaffensperioden, in das Jahrzehnt zwischen 1490 und 1499. Unmittelbar vor und während seiner Arbeit am »Abendmahl« hat er Studien zur Anatomie, Mechanik, Ballistik, zur Bewegung von Lichtstrahlen und zur Ausbreitung von Klangwel
len getrieben. Sie sind in das Gemälde eingeflossen; die Übertragung akustischer und optischer Gesetze; die emotionale Dynamik seiner Komposition.
Auf dem Heimweg, es hat aufgehört zu regnen, es nieselt, feuchtes Novemberwetter, der Blick in Gesichter Vorübergehender. Leonardo porträtierte seine Zeitgenossen, gab seinen Jüngern die Züge von Mailänder Bürgern und Höflingen. Wer könnte – ich versuche, in den Gesichtern zu lesen – heute Petrus, wer Johannes, wer Bartholomäus sein?
Mirella und Ferruccio wollen mir nicht glauben, daß ich im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie gestanden habe. Der Glücksumstand dieses einen nicht abgeholten Tickets.
4. November
Ein Regentag. In Mirellas kleinem Zimmer auf dem Sofa. Lektüre. Zufällig aus dem Bücherregal gegriffen. Wieder zurückgelegt. Mein Blick auf den Abreißkalender an der Wand. Waren wir vor zehn Jahren tatsächlich zur großen Demonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin? Der eine Sohn mit der Karikatur des Noch-Staatsoberhauptes Egon Krenz: Großmutter, warum hast du so große Zähne , der andere seinen Wehrdienst bei der Armee ableistend, im Morgengrauen mit seiner Kompanie nach Berlin gebracht, für den Ernstfall , den Durchbruch der Demonstranten durch das Brandenburger Tor, mit scharfer Munition ausgerüstet.
6. November
Im Zug von Mailand nach Rom. Schwere Wolken, auf den abgeernteten Feldern Nässe. In der Casa di Goethe eine Ausstellungseröffnung.
7. November
Am Morgen Vogelzüge über Rom. Das laute Krächzen in den Innenhof fallend. Nochmals eingeschlafen. Regen beim Erwachen. Die Glocken läuten. Es ist sieben Uhr. Was ist mit der Reinemachfrau?
8. November
Wieder im Schreiben.
Am späten Nachmittag – schon früh wird es dunkel – in den Park der Villa Borghese. Herbstlicher Geruch. Ein Anflug von Färbung am Laub der Bäume. Nie ist mir in den Sinn gekommen, daß Goethe diese Wege hier ging, über seinen Egmont nachdachte, zeichnete. Er hat die Villa Medici von der Spanischen Treppe aus skizziert, den Blick auf Rom vom Monte Pincio aus. Und im Park selbst sind zwei Arbeiten entstanden: »Allee im Park Borghese« und »Motiv aus der Umgebung der Villa Borghese in Rom«, beide mit Bleistift vorgezeichnet, dann mit Tuschfeder und Aquarellfarben ausgearbeitet, die eine in der Größe 10,8 × 18,9 cm, die zweite annähernd gleich 10,8 × 18,8 cm. Schön auch seine Studien von der Umgebung Roms: »Albaner See bei Castel Gandolfo«, »Villa Reiffenstein in Frascati«, »Kapuzinerkloster bei Albano«, »Landgut in den Albaner Bergen«.
9. November
Vollständig in Lappland verschwunden.
10. November
Erwin Strittmatters Rat: beim Schreiben das richtige Maß von Beharrlichkeit und Beschwingtheit . Ich habe es.
11. November
Neuerdings kommt die Sicherheitsfirma dreimal in der Nacht. Trauen sie ihrem System nicht, haben wieder Probleme mit ihren Computern? Am Morgen finde ich Zettel: 22 Uhr 06, 4 Uhr 16, 6 Uhr 30, dreimal die
Weitere Kostenlose Bücher