Wohin mit mir
Auch heute, als wir über steile Stiegen bis in die Laterne des Doms gelangten und die Ewige Stadt vor uns lag.
Der Petersdom. Ein Wunsch des Sohnes. Ich war erst einmal dort. Erdrückend groß erschien er mir, den eigenen Herzschlag dämpfend. Das Kolossalgebäude, eine Repräsentation von Macht; ständiges Beweisenwollen, als Kirche des Stellvertreters Gottes auf Erden die größte der Christenheit, die gewaltigste auf dem Erdenrund überhaupt zu sein. Alles schien mir darauf angelegt, den Besucher einzuschüchtern.
Für Winckelmann, ich kann es nicht nachvollziehen, war der Petersdom größer als alle Tempel der Griechen und Römer . Erleichterung, als ich lese, daß Rilke
von ihm als einem hoffärtig-großen, leeren Haus, das wie eine hohle Puppe ist schrieb, und Julian Green, der gläubige Katholik, davon, daß diese Kirche ihn nicht mehr berührt habe als eine Bahnhofshalle .
Einzig eine vergleichsweise kleine Marmorskulptur hinterließ in mir einen tiefen Eindruck: Maria mit dem toten Christus auf dem Schoß. Die Pietà, mit dem der noch unbekannte junge Michelangelo Buonarotti 1499/1500 in Rom seinen Ruhm als Bildhauer begründete.
Über die Via della Conciliazione hatte ich mich bei meinem einzigen Besuch dem Petersdom genähert. Eine Straße mit unverkennbar faschistoider Architektur. Geschaffen unter Mussolini, der das Gewirr der alten Gassen des Borgo-Viertels, zwischen Petersplatz und Tiber, niederreißen und die fünfzig Meter breite, zu Aufmärschen geeignete Prachtstraße bauen ließ.
Heute wähle ich einen anderen Weg, die parallel verlaufende Borgo Santo Spirito, wir kommen seitlich der Kolonnaden Berninis auf den Petersplatz. Eine Schar junger Schwarzhäutiger ist dabei, die Absperrgitter von den Gottesdiensten im Freien wegzuräumen.
Das Innere des Doms. Das dreigeteilte Schiff, 187 Meter lang, das Querhaus 140 Meter breit. Ich sehe, der Bühnenbildner bewundert die Theatralik des Raums. Über dem Hochaltar gedrehte Säulen, ein Dach mit Engeln und floralem Schmuck, ein riesiger Baldachin aus Bronze. Um ihn zu schaffen, wurde das antike Pantheon geplündert. Papst Urban VIII . Barberini ließ die Bronzeverkleidung an der Kassettendecke des Pronaos abnehmen, daraus 80 Kanonen und den Baldachin des
Altars in der Peterskirche gießen. Was die Barbaren nicht gemacht haben, machte Barberini , hieß es daraufhin in einem Spottvers.
Laß uns in die Kuppel hochsteigen, sagt der Sohn. Wir gehen in die Vorhalle zurück, fahren mit dem Lift hinauf. Von dem Umgang, der sogenannten Flüstergalerie, der Blick nach unten. Jetzt kann auch ich mich der Gewalt des Raumes kaum mehr entziehen. Dann weiter zu Fuß, mühsam Stufe für Stufe, der Treppenaufgang wird immer schmaler, schließlich müssen wir das letzte Stück durch einen gelbschmutzigen, lichtlosen beklemmenden Schlauch.
Dann stehen wir draußen; ein überwältigender Blick über die Dächer Roms und weit in die Landschaft hinein. Dort oben sprechen wir, als hätten wir nicht die Albaner Berge, sondern das Panorama Lapplands vor uns, über den hohen Norden. Mein Vorschlag eines fiktiven Wanderers als Träger aller Texte findet Zustimmung. Wir entscheiden uns für eine Wanderroute, der Tausende in jedem Sommer folgen. Aber die Jahreszeit, da unser Wanderer über die Seiten des Buches gehen wird, soll der Herbst sein; eine Zeit, da nur noch wenige Gänger in den Bergen Lapplands unterwegs sind. (Erst ein Jahr später, nachdem wir zu dritt die Wanderung nochmals gemacht haben, entschließen wir uns für zwei Erzählfiguren, den jungen Mann und die alte Frau). Dort, über den Dächern Roms, legen wir auch fest, wie sich Bilder und Texte zueinander verhalten sollen, nicht neben- oder untereinander sollen sie stehen, sondern ineinanderfließen. Das bedeutet, daß von
uns alles zu leisten ist: Bildbearbeitung, Layout und Satz. Wir wollen dem Verlag das Buch als Datei druckfertig übergeben.
Der Höhenrausch dort oben. Auf dem Rückweg sehen wir uns in der Herder-Buchhandlung Bildbände und Reisebücher an. Welches Format wäre für uns das günstigste? Wir holen Bettinas Rat ein. Und entscheiden uns. Legen eine Seitenzahl fest. Und erstmals taucht an diesem Abend der Titel des Buches auf: »Tage- und Nächtebücher aus Lappland«.
19. November
Am Morgen das Geräusch von strömendem Regen im Innenhof. Nachdem ich die Tür geöffnet habe, schlafe ich wieder ein. Erst gegen neun Uhr werde ich wach. Joachim hat den Tisch bereits gedeckt, das
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