Wohin mit mir
Zusammenhang will mir nicht einleuchten. Und die Vorstellung selbst, frage ich. Da lief alles perfekt, erwidert er. Dann ist es doch gut, sage ich. Aber ein Schwall von Argumentationen folgt.
Die Kehrseite seiner Philosophie: Arbeit, Genuß, Leben nahtlos zu verbinden. Seine Begabung. Er ist ein von seinen künstlerischen Ideen Besessener. Kann sich schwer in andere hineinversetzen, nimmt sich selbst als Maß.
Sein Bruder ist dabei, sich eine eigene kleine Firma aufzubauen. Ich beobachte, er geht strategisch und ernsthaft ans Werk. Seine Auftraggeber kommen aus unterschiedlichen Bereichen: Plakate und Programmhefte für Theater, Materialien für Medizin- und Pharmazie-Kongresse, Messe-Präsentationen. Er schafft sich mehrere Standbeine. Nur mit der Kunst könne man ein erfülltes Leben leben, meint Joachim. Muß der Bruder das nicht als Bedrängnis empfinden? Sei froh, daß er dir überhaupt hilft, sage ich. Aber er wiederholt das
Gesagte. Er kann nicht aus seiner Haut, spüre ich. Und weiß, der Jüngere muß sich vom Älteren frei machen, sein Selbstbewußtsein wird in dem Maße wachsen, wie er sich von ihm entfernt.
Unsere Dreierarbeit am Lappland-Buch? Ist es überhaupt richtig, Tobias einzubeziehen, wird sich sein Konflikt mit dem Bruder nicht verschärfen. Oder ist es eine Chance, sie einander näherzubringen. Ich bin unsicher. Auf mich wird es ankommen, denke ich. Ich muß aufpassen, daß diese Arbeit ihn nicht verschlingt, in einem vernünftigen Verhältnis zu seinen anderen Aufträgen steht. Ich muß sehr aufpassen. Oder bin ich zuweilen übervorsichtig? Der wiederkehrende Traum, daß ich ihn verlassen habe. Die Projektion meiner Schuldgefühle?
21. November
Totensonntag. Es regnet in Strömen. Gegen Mittag läßt der Regen nach. Mit Bettina in Vulci, im Castello dell'Abbadia und in Cerveteri. Die Grabbeigaben der Etrusker.
22. November
Fünf Grad am Morgen, die Putzfrau kommt völlig verfroren an. Ich hocke im kleinen Zimmer, heute das Schreibpapier auf den Knien, die Füße auf der Plasteschüssel. Konzentration. Glück. Sieben Tage habe ich noch bis zu den Lesungen in Genua und Palermo. Sieben Schreibtage. Am Mittag mit Bettina auf dem Platz nahe dem Pantheon, draußen gesessen, nach dem Essen heißer Tee.
24. November
Gearbeitet.
25. November
Ein Fax von Siegfried Unseld, er bietet mir die Poetik-Professur an der Frankfurter Universität an. Ein ehrendes Angebot. Es hockt wie ein Gespenst neben mir.
26. November
Arbeit. Am Nachmittag Sonne. Im Park der Villa Borghese, alle Schattenbänke frei, alle Sonnenbänke besetzt.
27. November
Das Gespenst Poetik-Vorlesung. Die Entscheidung hinausschieben.
Zum Bahnhof, um Alfredo abzuholen. Von Módena kommt er für einen Tag nach Rom. Seit über dreißig Jahren sind wir befreundet, 1964 lernten wir uns in Weimar kennen. Alfredo ist in Apulien, in Süditalien, geboren und aufgewachsen. Von Beruf ist er Lehrer, lebte lange in Bari, jetzt aber im Norden. Ab 1966 hielt er sich jedes Jahr in den Sommerferien für einen Monat in Ostberlin auf, arbeitete als Übersetzer für »Intertext«. Er besuchte uns oft, wohnte zuweilen auch für einige Tage bei uns; mit ihm und meinen Kindern haben wir viel zusammen unternommen, er gehörte fast zur Familie.
Roma Termini. Er springt aus dem Zug, unverändert sein jugendliches Aussehen, elastischer Schritt, Lachen, betont gerade Haltung. Mit letzterer zogen wird ihn
oft auf, nannten ihn einen Preußen, auch wegen seiner Vorliebe für das Militär. Zwei Jahre hatte er bei der italienischen Armee gedient, auf seinen erworbenen Dienstgrad war er stolz. Alfredo schlägt einen Ausflug zur Via Appia Antica vor. Am Wochenende sei die Straße für den Verkehr gesperrt, es sei eine gute Flaniermeile. Wir fahren mit dem Bus 118 bis zur Haltestelle Cecilia Metella. Die zweitausend Jahre alte Straße. Ein warmer Novembertag. Dunst in der Ebene. Der zerstreute Blick auf die alten Grabstellen und Monumente. Nur einmal, an der Fosse Ardeatine, bleibt Alfredo stehen, wenige Kilometer von hier habe Herbert Kappler, SS -Mann, deutscher Polizeichef von Rom, am 24. März 1944 355 Italiener erschießen lassen. Als Vergeltung für ein Sprengstoffattentat italienischer Partisanen in der Via Rasella, bei dem 33 deutsche Soldaten umgekommen seien.
Wir gehen weiter, reden, reden, über unsere Vergangenheit, über verlorene Illusionen … Täusche ich mich, wenn ich bei dem einstigen IKP -Genossen eine Sympathie
Weitere Kostenlose Bücher