Wohin mit mir
See, weiße Vögel steigen aus dem Dunst, der über dem Wasser liegt.
Dann Zypressenhaine. Riesige weiße Säulen, die Reste eines Tempels? Wühr, der gestern abend über den zweiten Teil von Goethes Faust-Tragödie sprach. In jedem der Buchstücke öffne sich ihm eine Welt.
Der Zug hält in Tarantola. Es gibt nichts zu sehen. Später Steinmauern, Felder, auf einer Anhöhe eine Burg.
Das Bahnhofsgebäude von Camucia Cortona, schwere bemooste Dachpfannen, gurrende Tauben. Dann umgepflügte Felder voller heller Erdschollen, und immer wieder Flächen mit Wein, die Rebstöcke bedeckt mit Plastehauben.
Castiglione, ein trauriges Mädchen, wie von Sulamith Wülfing gezeichnet, steigt ein. Ein Autofriedhof, ein Güterzug mit großen Holzstämmen. Arezzo in gleißender Sonne. Noch eine Viertelstunde bis Florenz. Wie auf meinem Weg mit dem Linienbus von Bodø nach Narvik sind auch hier auf der Bahnstrecke viele Tunnel. Fährt ein Gegenzug durch, heftiger Druck in den Ohren. Die beiden alten Frauen mir gegenüber, in ländlich schwarzen Kleidern, reden von ihren Kindern und Enkelkindern.
Umsteigen in Firenze. In einer knappen Stunde wird der Zug in Pisa sein. Ich entschließe mich, dort einen Zwischenhalt zu machen. Eine Stadt zum zweitenmal betreten, Straßen, Plätze wiedererkennen. Zwei Stunden wandere ich durch Pisa. Meine Lesung im April 1987 hier. Die Besteigung des Schiefen Turmes am frühen Morgen. Ich war die einzige Besucherin. Die Treppen im Inneren hoch. Dann das Hinaustreten, der Schock: kein Geländer. Den Rücken und die Handflächen immer im Kontakt mit der Mauer, dort, wo unter den Füßen die Neigung spürbar wurde, befiel mich jedesmal Angst. Aber ich stieg höher und höher, umrundete ihn außen fünfmal. Jetzt große Schilder, das Betreten ist verboten. Weiträumig ist das Gelände abgesperrt.
Der Dom, in dem ich damals am frühen Morgen eine
Messe erlebte. Auch da gab es wenige Besucher. Die Geistlichen im Chorraum, überwiegend alte Männer, mit ihren roten und lila Gewändern. Ich beobachtete die im Chorgestühl Sitzenden, manche gähnten, einige hielten die Augen geschlossen, auch ihr Gesang war müde und lustlos.
Mit dem Euro-Star weiter nach Porta Brione. Auf der Karte sehe ich, die Eisenbahnstrecke führt an der Küste entlang. Vorfreude. Aber die Dämmerung beginnt schon einen Schleier über die Landschaft zu werfen, der schwarze Vorhang der Dunkelheit entzieht sie vollends meinen Blicken.
2. Dezember
In Genua im Hotel Bristol erwacht. Der freundliche Empfang gestern. Und ein Vorschlag für den heutigen Tag: mit der Bergbahn nach Righi hinauf. Eine Wegskizze, wie ich zur Abfahrtsstelle komme, liegt bei.
Oben angelangt, steigt auch der Zugführer aus, mit einem Kaffee setzt er sich auf eine Bank in die Sonne. Zum ersten Mal hier, fragt er in meinem Rücken. Steht auf, erklärt mir: Genua, Altstadt, Hafen, Golfo di Génova, rechts Riviera di Ponente, links Riviera di Levante. Auf der anderen Seite Berge, er nennt Namen, und ich sehe auf eine sich weithin schlängelnde vierspurige Autobahn, auf denen sich spielzeugklein unaufhörlich Lastzüge und Personenautos bewegen. Bello, molto bello, sagt er. Ich kann ihm nur zustimmen. Hierher komme man nicht jeden Tag. Wenn ich den phantastischen Ausblick genießen wolle, könne ich bleiben;
er nennt mir die nächsten zwei Abfahrtszeiten, er werde Bescheid geben, sagt er, die Hand hebend.
Am Abend meine Lesung im Goethe-Institut.
3. Dezember
Mit dem Bus nach Nervi ans Meer. 19 Grad.
Nach der Rückkehr eine Ausstellungseröffnung im Palazzo Ducale. Die Räume sind mit rotem Samt ausgeschlagen. Kanonen stehen umher. Die lange Ahnenreihe der Dogen.
4. Dezember
Die Leiterin des Goethe-Institutes lädt mich zu einem Ausflug ein. In südlicher Richtung die Küstenstraße entlang nach Camogli. Wir lassen das Auto stehen, wandern über Treppen und einen sich aufwärts windenden Weg bergwärts. Gesäumt wird er von rötlichbraunen Feldsteinmauern, aus denen sich tiefgrünes Buschwerk drängt. Weithin an den Hängen Olivenhaine, knorrige alte Bäume, ausgespannte Netze darunter. Blauschwarz glänzen die Früchte. Auf der Bergspitze die Kirche San Rocco. Ein alter Priester mit gütigem Gesicht. Er erzählt von den sechzig jungen Männern aus den umliegenden Dörfern, die zur Zeit Mussolinis als Vergeltung für eine Partisanenaktion an Ketten gefesselt im Meer ertränkt wurden.
Dunst über dem Meer. Herbstfarben, Herbstgerüche.
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