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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Damm
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Weit draußen die Ertrinkenden.
     
    Am Abend Einladung in das Generalkonsulat in Genua. Eine imponierende Konsulin. Nach vierzig Jahren wird die Einrichtung geschlossen. Ebenso das Goethe-Institut in Genua. Viel Unmut ist zu hören, nicht nur im östlichen Teil der neuen Bundesrepublik finde ein Ausverkauf statt, auch hier. Sparen an der falschen Stelle, der Prestigeverlust sei enorm.
     
    5. Dezember
    Mit dem Bus nach Pegli. Kalter Wind. Heftige Halsschmerzen. In der Zeitung lese ich, gestern ist in einer Kirche ein Priester ausgeraubt und ermordet worden. San Rocco ist sofort vor mir. Aber der Ort heißt Vernazza.
     
    6. Dezember
    Genua, Aeroporto. In »la Repubblica« ein Foto: Der Sarg des ermordeten Priesters schwebt über einer Menschenmenge. Der Name des Ermordeten ist Don Emilio Gandolfo. Er wird zu Grabe getragen.
     
    Unablässiges Handy-Klingeln um mich her.
     
    Mein Flug nach Palermo wird aufgerufen. Italien ohne Sicilien macht gar kein Bild in der Seele: hier erst ist der Schlüssel zu Allem. Hat dieser Satz Goethes mich für eine Lesung in Palermo entscheiden lassen? Oder sein Sicilien deutet mir nach Asien und Afrika und auf dem wundersamen Punkte, wohin so viele Radien der Weltgeschichte gerichtet sind … Das Flugfeld liegt direkt am Meer. Im Rückblick Genua im gleißenden
Sonnenlicht. Dann das Grün von Monte Portofino, die große Bucht bei La Spézia, hinten eine Gebirgskette mit Schnee bedeckt, die flache Toskana und, mein Herz schlägt heftig, die Gegend, wo ich im September war: San Felice und der Monte Circeo, Sperlonga und Gaeta sind deutlich zu erkennen. Jetzt müßten der Golf von Neapel und der Vesuv auftauchen, aber das Flugzeug dreht ab, nimmt Kurs auf das offene Meer; der Küstenstreifen verschwimmt im Dunst.
     
    Von Neapel aus startete Goethe nach Sizilien. Vier Tage brauchte das Paquetboot bis Palermo. Und ebensolange dauerte die Rückkehr von Messina aus. Diese Schiffsreise nach Sizilien war die einzige in Goethes Leben, da er sich für längere Zeit auf offenem Meer befand. (Abgesehen von der Reise mit dem Kurierschiff von Venedig nach Ferrara, das ihn über Chioggia bis Porto di Pila, von dort poaufwärts bis Pontelagoscuro und – zu Lande – weiter nach Ferrara brachte, wo er die beiden Nächte in seinen Mantel gehüllt auf dem Verdeck verbrachte .) Auf der Überfahrt nach Sizilien wurde er seekrank, vom Tribut einer dreitägigen Unpäßlichkeit , die er dem Meer auf der Hin- und auch auf der Rückreise zahlen mußte, berichtet er. Und daß er wegen der Übelkeit fasten , ja hungern mußte. Zacharias Werner will sogar von Kniep gehört haben, daß Goethe wie ein Wahnsinniger phantasiert und das Gehen der Matrosen auf dem Verdeck, als er es unten im Bette der Kajüte gehört, für den Gang seiner Großmutter gehalten hatte . Obgleich Goethe meistens in der Kajüte lag – auf der Hinfahrt nach seiner Aussage
über den Tasso nachsinnend –, hinterließ das Meer einen bleibenden Eindruck. Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von der Welt und von seinem Verhältnis zur Welt , schrieb er und daß ihm diese große simple Linie ganz neue Gedanken gegeben .
    Welchen Begriff von der Welt , welche neue Gedanken würde ihm eine Reise mit einem modernen Flugzeug bringen, würde er die Küstenlinie Italiens, das weite Meer und die Berge und Buchten Siziliens aus der Vogelperspektive sehen?
     
    Der Flugkapitän kündigt die Landung an. Nachdem wir unterhalb der dichten Wolkendecke sind, sehe ich nur bräunlichen Dunst. Smog? Ich denke an Goethes Ankunft. Von dunstiger Klarheit , die um die Küsten schwebte , schreibt er, als das Schiff in den Hafen von Palermo einlief. Die Reinheit der Konture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonien von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat der hat es auf sein ganzes Leben.
    Aeroporto »Falcone e Borsellino«, 30 Kilometer westlich von Palermo gelegen. Benannt nach Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, den beiden Richtern, die gegen die Mafia zu Felde zogen und es mit ihrem Leben bezahlten. 1992 wurden sie ermordet. Die Fahrt mit dem Taxi in die Stadt dauert eine Ewigkeit, chaotischer Verkehr, Hupen, lautstarke gegenseitige Beschimpfungen der Autofahrer, aber alles geschieht mit einer gewissen Gelassenheit, nirgends verbissene Gesichter. Schließlich Hochhäuser, ein Neubauviertel; gesichts
los und häßlich wie überall auf der Welt. In einem der Hochhäuser meine

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