Wohin mit mir
Raum von erdrückender, gespenstiger Leere liegt
eine tote junge Frau auf der nackten Erde, ihr Kopf ist zur Seite gesunken, eine Schnittwunde ist am Hals erkennbar. Das ist so existentiell, daß ich das Gefühl habe, mein Körper ist es, der da auf der kalten braunen Erde liegt, und die zwei in der vorderen Bildebene stehenden, mit Schaufeln bewehrten zyklopischen Totengräber, mit dem Ausheben der Gruft beschäftigt, tun das für mich. Erst viel später nehme ich die verloren wirkende, dicht gedrängt stehende kleine Trauergemeinde wahr: ein junger Mann in einem leuchtend roten Mantel, eine verschleierte Frau ihm zur Rechten, eine Kniende, die fassungslos ihren Kopf in die Hände stützt. Und rechts, von einem der Totengräber fast verdeckt, ein Soldat und ein Bischof, an Mitra und Stab erkennbar.
Ich kann mich kaum lösen, gehe zum Ausgang des Museums, kehre um. Stehe wieder vor der in dem unterirdischen Verließ auf dem kalten Erdreich in trostloser Verlassenheit liegenden toten jungen Frau.
Im Hotel fühle ich mich müde, die Erkältung, ich habe Kopfschmerzen. Mein Plan war heute, in die Neustadt zu fahren, in den »Parco Archeologico«, die größte und bedeutendste Ausgrabungsstätte von Monumenten der griechischen und römischen Epoche. Ich kapituliere, lege mich ins Bett und lese, was ich alles versäume: das griechische Theater, in dem 427 v. Chr. Aischylos' Tragödie »Die Perser« seine Uraufführung erlebte, das dann 238 v. Chr. umgebaut wurde und mit 15 000 Zuschauern das größte der griechischen Welt ist. Über meiner Lektüre schlafe ich ein.
Als ich erwache, sind fast zwei Stunden vergangen. Die junge Frau auf der nackten Erde. Damals las ich nicht nach, wen Caravaggio da gemalt hatte, wie er überhaupt nach Syrakus gekommen war. Als Gejagter, als Flüchtling kam er. Innerhalb von etwa zwei Monaten muß das Gemälde entstanden sein. Die Termini ante und postquem sind seine Flucht aus Malta am 6. Oktober 1608 und seine Ankunft in Messina im Dezember des gleichen Jahres. 1606 hatte er in Rom im Streit einen Mann getötet und war mit dem päpstlichen Bann belegt worden. Er floh aus der Ewigen Stadt. In Neapel und später auf Malta gelangte er durch seine Arbeiten wieder zu Ruhm. In Valletta ernannte man ihn sogar zum Ritter des Malteser-Ordens. Dann aber warf man ihn ins Gefängnis. War der päpstliche Bann entdeckt worden, war es ein Komplott? Wiederum gelang ihm die Flucht. Nun nach Syrakus. Überliefert ist, daß er hier von seinem römischen Werkstattmitarbeiter Mario Minniti empfangen wurde und durch ihn einen Auftrag erhielt. Für den Hochaltar der Kirche Santa Lucia, die in den Jahren 1608 bis 1610 restauriert wurde, sollte er ein Bild schaffen. Die Kirche lag über den frühchristlichen Katakomben. In ihnen war Lucia, eine frühchristliche Heilige, bestattet worden. Unter Diokletian hatte sie das Martyrium erlitten. »Das Begräbnis der heiligen Lucia« ist der Titel des Bildes. Der ruhelose Caravaggio ging von Syrakus nach Messina, dann nach Palermo, von da nach Neapel. In Neapel malte er zwei Selbstporträts: »Johannes der Täufer« und »David mit dem Kopf des Goliath«. Beide waren als Geschenke für seinen Gönner Scipione Borghese gedacht, der sich
in Rom mühte, bei Papst Paul V . einen Gnadenerlaß für den Maler zu erwirken. Die Bilder waren Eingeständnisse seiner Schuld und die Bitte um Vergebung. In Porto Ercole, einem von den Spaniern besetzten Hafen an der Tibermündung, unweit von Rom, erwartete Caravaggio den bevorstehenden päpstlichen Gnadenerlaß. Aber noch ehe dieser ihn erreichte, erkrankte er an einem Fieber, seine letzten Tage soll er im Hospiz der Confraternita di San Sebastiano verbracht haben. Am 18. Juli 1610 starb er, noch nicht vierzig Jahre alt, in Porto Ercole.
Schlief ich an jenem Dezembertag in Syrakus ein zweites Mal ein? Ich entsinne mich, wie ich mich am frühen Nachmittag aufraffte, um den auf einem antiken Tempel errichteten Dom Santa Maria delle Colonne auf Ortigia zu besichtigen; antike Säulen sollen in das christliche Gotteshaus integriert, der Altar ein antiker Block sein.
Als ich den Platz vor dem Dom erreiche, wogt eine Menschenmenge auf ihm. Ich dränge mich bis in die Nähe des Portals durch. Ein Weiterkommen ist unmöglich. Ein süßer Duft steigt mir in die Nase. An einem dicht umlagerten Stand wird brauner Zucker auf heiße Marmorplatten gegeben, zischend schmilzt er, und die hauchdünne Masse wird blitzschnell und mit
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