Wohin mit mir
großem Geschick an einem Stab aufgerollt. Noch heiß wandert die Leckerei in ausgestreckte Hände. Ich beobachte es eine Weile. Da beginnen die Glocken des Doms zu läuten, in die Menge kommt Bewegung, das Portal öffnet sich, und das Geläut vermischt sich mit den
aus dem Inneren dringenden Orgelklängen. Über den Köpfen der Menschen wird aus dem Dom, auf einem großen Gerüst schwankend, eine Muttergottes getragen. Ist sie aus Pappmaschee, aus Holz? Im Näherkommen sehe ich, sie ist aus Holz, die Farbe an Stirn und Gewand ist zum Teil abgeblättert. Eine Gasse bildet sich, die vorn stehenden Frauen fallen auf die Knie, die Hände betend erhoben, brechen sie in Wehklagen und Schreien aus, laut und schrill setzt es sich in der dichten Menschenmenge wie eine Schallwelle fort. Die Maria schwankt über den Köpfen, bewegt sich in meine Richtung, kommt näher, ist in der Höhe der heißen Marmorplatten. Ich sehe, wie einer der Zuckerbäcker sich mit der linken Hand bekreuzigt, seine Arbeit aber nicht unterbricht. Immacolata Concezione, Marie Empfängnis, feiere man heute, erzählt mir ein Mann. Die Prozession zu Ehren der Muttergottes gehe über ganz Ortigia. Zum Abschluß werde es ein Feuerwerk geben.
Gegen neun bin ich in meinem Hotel, noch immer ist der Lärm der fröhlich Feiernden zu hören und übertönt das an die Mauer schlagende Meer. Ich schalte den Fernseher ein. Der Papst weiht in Rom ein Teilstück eines Autotunnels am Vatikan ein. Riccardo Muti dirigiert in der Mailänder Scala eine Premiere. Ausführlich werden die Kleider der Damen bei der Premiere gezeigt. Ich denke an Bettinas Ausspruch, das oberste Gebot in Italien sei, eine gute Figur, una bella figura , zu machen. Im Einschlafen die ersten Böllerschüsse des Feuerwerks.
9. Dezember
Rückfahrt mit dem Bus nach Palermo. Die Strecke von Syrakus bis Catania, die ich hinwärts bei Dunkelheit fuhr, eine endlose Industriezone; Petrochemie, Raffinerien, Bohrtürme, Batterien von Strommasten, rauchende Schlote und überall Wohnsilos aus Beton.
Am Abend die Lesung im Goethe-Institut. Professor Cometa, ein Goethe-Experte – ich bin ihm schon in Rom in einer Urfaust-Aufführung begegnet – leitet sie ein. Dann »Christiane und Goethe« auf sizilianisch. Eine Studentin hat die kurzen Textstellen, die ich lese, übersetzt. Schließlich übernimmt der Professor wieder, dolmetscht die Fragen aus dem Publikum und meine Antworten. Danach im Hochhaus eine Runde von acht Leuten. Am Ende bin ich froh, daß ich nur wenige Schritte zu gehen brauche, um in mein Bett zu fallen.
10. Dezember
Heute in Segesta. Der dorische Tempel aus dem ersten Viertel des 5. Jahrhunderts vor Christus. Meine Begleiter, ein verliebter Student mit seiner Freundin, bleiben auf dem Parkplatz zurück. Ganz allein wandere ich durch vertrocknete Disteln und wilden Fenchel bergwärts. Am Ende eines weiten Tales liegt der Tempel einsam auf einer Anhöhe. Nur das Geräusch des Streifens der verdorrten Kräuter an meinen Schuhen ist zu hören. Ansonsten Stille. Nicht einmal ein Vogellaut. Dann bin ich in der mächtigen Säulenhalle, die nie fertig geworden ist, sein Dach der Himmel. Die verwitterten jahrtausendealten dorischen Säulen. Die hohe Lichtin
tensität. Die Dezembersonne steht schon tief. Klare starke Schatten.
Der letzte Abend in Palermo. Zu zweit. Die Leiterin des Goethe-Institutes erzählt von ihrem in Chile 1973 verschollenen Mann, ihr gemeinsames Kind war vier Jahre. Die Nähe, die sich einstellt. Ähnlich war es in Genua. Die Lebensklugheit, Kultiviertheit, Souveränität; die Wärme dieser beiden Frauen. Unsere intensiven Gespräche. Das Sich-Öffnen. Und dann der Abbruch. Das Wissen, sich im Leben vielleicht nie wiederzusehen. Oder ist das gerade die Bedingung dieser rückhaltlosen Nähe? Der Unterschied zu Rom. Da bleibt alles Distanz.
11. Dezember
In Palermo am Morgen heftiger Regen. Der Himmel ist schwarz. Dann kommt die Sonne, und ein Regenbogen leuchtet über der Stadt. Ein Geschenk zum Abschied.
Der Aeroporto »Falcone e Borsellino«.
Sechs Tage in Sizilien. Sechs Wochen, vom 2. April bis 12. Mai 1787, hielt sich Goethe zusammen mit dem Maler Christoph Heinrich Kniep auf der Insel auf. Er reiste mit einem Schutzbrief, einem Paß, ausgestellt auf Giovanni de Goethe di Weimar, Tedesco . Kniep zeichnete, Goethe notierte seine Beobachtungen zu Flora, Fauna, Geologie, Mineralogie, zu Architektur und Menschen. Bis zum 17. April blieben die
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