Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
daraufhin aus Österreich, solange die Grenzen noch offen waren, mit dem Zug, mit dem Auto oder sogar mit Taxis. Tausende weitere versuchten sofort, Visa zu ergattern, damit sie das Land verlassen konnten, standen oft die ganze Nacht vor ausländischen Botschaften Schlange, um eine bessere Chance zu haben, bloß um während des Wartens attackiert zu werden. Käthe hatte besondere Gründe zur Flucht, stand doch ihr Unternehmen auf der Liste der Betriebe, die Männern und Frauen jüdischer Herkunft gehörten und arisiert werden sollten; das Resultat war der Verkauf solcher Unternehmen zu einem Bruchteil ihres Wertes. Ende März 1938 hatte Käthe ihre Stellung bei der Graetzin-Licht-Gesellschaft verloren; sie wäre sonst in der Arbeit und nicht zuhause gewesen, als vierzehn Tage später die beiden Männer an ihrer Tür klingelten.
Doch Männer und Frauen jüdischer Herkunft wie Gretl, Käthe und Erni hatten auch guten Grund zu hoffen, die ersten Wochen der Naziherrschaft würden sich als Anomalie herausstellen; schließlich hatten die Nazis in Deutschland nicht derart gewütet. Als in den ersten Aprilwochen die Gewalt nachließ und in Wien wieder ein Anschein von Normalität einkehrte, sah es so aus, als würden diejenigen recht behalten, die eine Rückkehr zu ruhigen Verhältnissen erwarteten. Laut Anne waren ihre Mutter, ihr Onkel und ihre Tante unter den Leuten, die »dachten, ihr schönes Leben in Österreich würde so weitergehen«. Als die Männer vor Käthes Tür standen, bereitete sie sich gerade auf einen Theaterbesuch vor.
Käthes Bericht darüber, was an diesem Tag geschah, war einer von vielen, die Opfer der Nazis an den neuen Wiener Gauleiter Josef Bürckel schrieben, in der Hoffnung, er würde das Unrecht abstellen, das ihnen geschah. Die meisten dieser Briefe waren direkt an Bürckel gerichtet, was bedeutet, dass er sie nie las. Käthe versuchte mithilfe des kommissarischen Leiters der Graetzin-Licht-Gesellschaft, der sie arisiert hatte, an Bürckel heranzukommen. Die meisten der Ariseure waren darauf aus, die Unternehmen unter ihrer Kontrolle auszuplündern und die ursprünglichen Inhaber zu demütigen, andere aber waren anständiger. Käthes kommissarischer Leiter scheint zu ihnen gehört zu haben. In ihrem Brief an Bürckel stellte sie fest: »Der eine Herr war in Zivil, der andere in schwarzer SS-Uniform, welche für uns Wiener damals neu und fremd war.« Implizit hieß das, sie habe nicht realisiert, wen sie hatte warten lassen, als sie die Polizei anrief. »Da ich kurz vorher in der Zeitung einen Aufruf gelesen hatte, niemanden Fremden in die Wohnung einzulassen, da sich Übergriffe von Kommunisten ereignet hätten, die sogar in Uniformen verkleidet in Wohnungen eingedrungen seien und illegal Wertsachen davongetragen hätten, sondern unbedingt zuvor beim zuständigen Polizei-Kommissariat einen Wachmann in Uniform anzufordern ...« – in anderen Worten, sie war eine brave Bürgerin, die sich an offizielle Anweisungen hielt, als sie die Polizei anrief.
Eine solche Naivität passt zum Bild Annes von Käthe, ist aber schwer zu glauben. Konnte Käthe wirklich im April 1938 so arglos sein, nicht zu wissen, welche Uniformen die SS trug? Oder versuchte sie sich als so gutgläubig wie möglich hinzustellen, damit die Nazis nicht den Schluss zogen, sie habe ihnen bewusst Widerstand geleistet? Und konnte sie nach fünf Jahren christlichsozialer Diktatur und einem Monat Nazi-Terror noch glauben, die Wiener Kommunisten wären in der Lage, Wohnungen auszurauben? Worauf hoffte sie, als sie die Polizei anrief? Vertraute sie ihr immer noch, obwohl viele Polizisten sich sofort an der Verfolgung der Wiener Juden durch die Nazis beteiligt hatten, oder rief sie an, weil sie sonst niemanden hatte, an den sie sich wenden konnte?
Laut G.E.R. Gedye, dem Wiener Korrespondenten des Londoner
Daily Telegraph
zur Zeit des »Anschlusses«, waren die Warnungen in den Zeitungen fingiert. In »Fallen Bastions«, dem einflussreichsten zeitgenössischen Buch über die Annexion Österreichs, behauptete Gedye, Juden, die »naiv genug« gewesen seien, die Artikel ernst zu nehmen, hätten erfahren müssen, dass, wenn sie die Polizei anriefen, »in manchen Fällen die Vermittlung sich weigerte, ihren Anruf entgegenzunehmen, und in anderen die Antwort der Polizeistelle, wenn sie erklärt hatten, was vor sich ging, so lautete, dass alle Polizisten auf Streife seien, am Telefon sei der Hausmeister«. Der Normalfall sah
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