Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
tat sie Annelores Ängste als die eines »dummen Kindes« ab.
In ihrer Geschichte äußerte sich Anne sehr scharf über diese Reaktion. Sie war der Ansicht, Gretl habe zu lange in der Wohllebengasse gewohnt, »ein geschlossenes Reich, abgeschirmt von der Außenwelt«, wo jeder »der etablierten Routine folgte und sich nicht vorstellen konnte, dass die Dinge sich jemals ändern würden«. Aber Gretl war vielleicht gar nicht so blind; in diesem Februar hatte sie ihren Pass umschreiben lassen, sodass er nun für alle europäischen Länder gültig war, ebenso wie Annelores Pass, der ein Jahr zuvor ausgestellt worden war. Gretl mag das nur deshalb getan haben, weil sie einen Auslandsurlaub plante, sie mag sich aber auch auf eine rasche Emigration vorbereitet haben.
Laut Anne war Käthe noch mehr darauf versessen, Wien nicht zu verlassen; sie wollte in der Nähe Lenes bleiben, die zusammen mit Moriz und Hermine im Familiengrab auf dem Hietzinger Friedhof ruhte. Nachdem sie als Kinder und Erwachsene alles gemeinsam unternommen hatten, wollte Käthe Lene im Tod nicht allein lassen. Doch das Grab und die zahlreichen Bindungen Käthes an Wien spielten bei ihrer Entscheidung möglicherweise nur zum Teil mit. Ihre Position als Geschäftsführerin der Graetzin-Licht-Gesellschaft, die ihr zur Hälfte gehörte, war ein starker Grund zum Bleiben.
Die Gelegenheit für Gretl, Käthe und Annelore, relativ leicht das Land zu verlassen, schwand einige Wochen nach dem Ende von Annelores Ballsaison, nachdem Schuschnigg eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs ausgerufen hatte; Hitler reagierte darauf mit der Mobilisierung der nahe der österreichischen Grenze stationierten achten deutschen Armee, um Schuschnigg zu zwingen, die Abstimmung abzusagen. Nachdem Schuschnigg am 11. März nachgegeben hatte, verlangte Deutschland seinen sofortigen Rücktritt als österreichischer Bundeskanzler. An diesem Abend lauschten Gretl und Annelore wie die meisten Österreicher Schuschniggs im Radio übertragener Abschiedsrede, in der er verkündete, »unter keinen Umständen« deutsches Blut vergießen zu wollen. Bevor die Nacht vorüber war, befand sich der Großteil des Landes in den Händen von Hitlers österreichischen Anhängern. Im Morgengrauen überschritt die deutsche Wehrmacht die Grenze und wurde von Zehntausenden Österreichern willkommen geheißen, die die deutschen Truppen mit Blumen überschütteten. Um Mitternacht waren die ersten deutschen Panzer in Wien und veranstalteten vor einer ekstatischen Menge eine improvisierte Parade auf der Ringstraße.
»Anschluss«
»STÜRMISCH«; SO BESCHRIEB Käthe das Läuten der Türklingel. Nicht bloß laut, stürmisch. Drängend. Endlos. Wenigstens war es am Nachmittag, nicht mitten in der Nacht. Käthe hätte das Hausmädchen schicken können, aber die Dringlichkeit des Schrillens bewog sie, selbst hinzugehen. Sie ließ die Türkette vorgespannt und öffnete die Tür; draußen standen zwei Männer, einer in Zivil, einer in einer schwarzen Uniform, die eingelassen zu werden verlangten. Käthe aber schloss die Tür und rief die Polizei an, sie solle sofort einen Beamten schicken. Dann sagte sie den Männern, was sie getan hatte, und beobachtete durch den Spalt zwischen Türrahmen und angeketteter Tür, wie der Mann in Zivil zunehmend ärgerlicher wurde.
In den Monaten seit dem »Anschluss« hatten die Nazis Juden und jüdische Konvertiten in einer Art und Weise attackiert, die mit der in Deutschland nicht vergleichbar war. Viele waren überfallen und umgebracht worden, anderen hatte man Geschäfte und Wohnungen geplündert. Hunderte waren vor einer begeisterten Menge gedemütigt worden: Man hatte sie gezwungen, einander ins Gesicht zu spucken oder die Straßen zu schrubben, wobei sie mit Ätznatron oder Salzsäure versetztes Wasser verwenden mussten, das ihre Finger verätzte. Tausende waren verhaftet und in Polizeigefängnisse in Wien gesteckt oder in das erste Konzentrationslager der Nazis in Dachau bei München geschickt worden. Da nach den Nürnberger Gesetzen jede Person mit drei jüdischen Großeltern als Jude galt, egal ob die Eltern konvertiert waren oder nicht, befanden sich Erni, Gretl und Käthe in unmittelbarer Gefahr. Die Nürnberger Definition erhielt zwar erst im Mai 1938 Gesetzeskraft, in der Praxis galt sie aber seit dem »Anschluss« und machte somit aus den Gallias statt österreichischer Staatsbürger deutsche Juden.
Hunderte Wiener jüdischer Herkunft flohen
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