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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Entlassung Ende Mai bewirkte, führte an, dass sie ihr Eigentum freiwillig aufgebe und das neue Großdeutschland verlassen wolle. Der erste Teil dieses Statements war falsch, der zweite stimmte. Wegen ihrer Hafterfahrung wollte Käthe nur zu gerne emigrieren, ebenso Gretl und Erni, der ebenfalls einen beträchtlichen Teil seines Vermögens durch Arisierung verloren hatte. Weniger als siebzig Jahre, nachdem ihr Onkel Adolf Gallia als erster ihrer Verwandten nach Wien gegangen war, angelockt von den Möglichkeiten, die es bot, und der nie dagewesenen Toleranz gegenüber Juden, wussten Erni, Gretl und Käthe nun, dass sie fortmussten. So schwierig ihre Beziehung auch sein mochte, Gretl und Käthe entschieden sich doch, miteinander zu fliehen, um gemeinsam für Annelore – wenn auch nicht immer füreinander – sorgen zu können.
    Wie alle Wiener Schulen blieb auch Annelores Gymnasium in der Albertgasse nach dem »Anschluss« einige Tage geschlossen. Als es wieder öffnete, waren etliche Lehrkräfte verschwunden, sie waren entweder vor den Nazis geflohen, oder man hatte sie aus rassischen oder politischen Gründen ihrer Stellung entledigt. Wie in anderen Schulen auch hatten die verbliebenen Lehrer Hitler einen Treueid geschworen. Wenn sie vor dem »Anschluss« bereits illegale Parteimitglieder gewesen waren, kamen sie nun im Schmuck ihrer Parteiabzeichen in die Schule stolziert, manche in SA- oder SS-Uniform. Annelore war besonders schockiert, als sie herausfand, dass Ilse Hornung, die sie im Frauen-Erwerb-Verein angeschwärmt hatte, während der »Verbotszeit« Parteimitglied gewesen war.
    Die jüdischen Schülerinnen in der Albertgasse wurden sofort ins Visier genommen. Annelore war es gewohnt, mit ihren beiden besten Freundinnen, beide »Arierinnen«, in der Klasse vorne zu sitzen. Nach dem »Anschluss« wurde die Klasse geteilt: Die »Arierinnen« besetzten die vorderen Reihen, die Jüdinnen, darunter Annelore, wurden nach hinten verbannt. Wenn sie ihnen zu nahe kamen, rafften die »arischen« Mädchen in ostentativer Angst vor Ansteckung ihre Kleider an sich. Die zwei Mädchen, die Annelores beste Freundinnen gewesen waren, beteiligten sich besonders eifrig an diesen Manövern, vielleicht um ihre frühere Schuschnigg-Anhängerschaft wettzumachen. Laut Anne »kannten diese Mädchen sie nicht mehr«.
    Dieser Ausschluss bezog sich auch auf Nazi-Symbole und -Zeremonien. Die »arischen« Schülerinnen in den Wiener Schulen begannen jeden Tag mit dem Hitlergruß, die jüdischen durften sich daran nicht beteiligen. Sie mussten zuhören, wenn die anderen sangen: »Wenn Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut.« Sie durften kein Hakenkreuz tragen wie die anderen. Anne erinnerte sich besonders an die Reaktion einer Klassenkameradin, deren jüdischer Vater von den Nazis inhaftiert worden war, die »arische« Mutter jedoch nicht. Mit einer Mischung aus Neid und Verachtung entsann sie sich, dass das Mädchen die Größe des Hakenkreuzes je nach dem Lehrer änderte und das größte für den leidenschaftlichsten Nazi auswählte. »Es war furchtbar«, schrieb Anne, »eine Ausgestoßene zu sein und in dieser veränderten Atmosphäre zu leben.«
    Sie dachte, immer noch relativ viel Glück zu haben, da viele der »arischen« Schülerinnen und Lehrer in der Albertgasse seit langem Nazis waren und sich nicht gezwungen fühlten, extreme antisemitische Aktionen zu setzen, um sich dem neuen Regime anzudienen. Sie hätte auch ganz vom Unterricht ausgeschlossen werden können, da ein neues Gesetz den Juden verbot, ihre ehemaligen Schulen zu besuchen, und ihnen stattdessen vorschrieb, in eine der acht für Juden vorgesehenen Schulen zu gehen. Doch wie bei vielen antisemitischen Maßnahmen der Nazis erwies sich die Durchführung als lückenhaft. In manchen Schulen wurden die Juden unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes Ende April weggewiesen, an anderen wurden sie in eigenen Klassen zusammengefasst, mussten eigene Eingänge und Toiletten benutzen. In manchen, darunter in der Albertgasse, durften Juden bleiben.
    Annelores großer Trost war die Staatsoper, die seit Anfang 1938 das Burgtheater als ihren liebsten Ort zum Ausgehen abgelöst hatte. Der Wendepunkt war ihr sechzehnter Geburtstag, einen Monat vor dem »Anschluss«. Bis dahin war Annelore zu den Abendvorstellungen in Theater und Oper immer von Erwachsenen begleitet worden, meist hatten sie sehr teure Sitze gehabt. Ihr Ehrgeiz war es, so viele Vorstellungen wie

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