Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
möglich zu sehen, egal wo sie saß. Nachdem sie sechzehn geworden war, ließ Gretl sie allein gehen und Stehplatzkarten für die Oper kaufen, das einzig Demokratische an dieser elitären Institution. Neben 2500 Sitzplätzen gab es auch etwa 500 Stehplätze, manche vorne auf der Galerie, dem vierten und höchsten Rang, andere an den Seiten im dritten Rang. Die besten waren hinten im Parterre, da konnte man für einen symbolischen Schilling oder zwei einen sehr guten Blick auf die Bühne genießen. Zum ersten Mal stand Annelore dort, um Ende Februar 1938 eine Aufführung von Mozarts »Don Giovanni« zu sehen. Sie hielt sie für »ausgezeichnet«.
Im Chaos nach dem »Anschluss« blieb die Oper geschlossen; als sie Ende März wieder geöffnet wurde, blieben trotzdem viele Besucher fern, egal welcher Religion. Unter ihnen war Gitta Sereny, später durch ihre Biografie über Hitlers Leibarchitekten Albert Speer bekannt geworden. Wie sie sich in einem autobiografischen Essay erinnerte, war es ihr und ihrer besten Freundin, beide waren sie fünfzehn und Protestantinnen, von den Eltern verboten worden, erst nachts nachhause zu kommen, und sie besuchten keine Vorstellungen, auch wenn sie in einer größeren Gruppe waren. Annelore als Jüdin hatte umso mehr Grund, wegzubleiben oder den Schutz einer Gruppe zu suchen, und Gretl, eine besonders ängstliche Mutter, hatte wegen Käthes Verhaftung auch einen besonderen Grund, darauf zu bestehen. Doch meist erfüllte sie Annelore ihre Herzenswünsche, und so dauerte es nicht lange, und sie war häufiger denn je unterwegs. Während Käthes Haftzeit im April und Mai besuchte Annelore vierzehn Vorstellungen, neun weitere im Juni. In der intensivsten Phase – kurz bevor die Wiener Opernhäuser, Theater und Konzertsäle in die Sommerpause gingen – ging sie viermal hintereinander und an fünf Abenden von sechs. Sie konnte das noch legal tun, da die Nazi-Gesetze, die es den Juden verboten, öffentliche Unterhaltungsorte aufzusuchen, erst gegen Ende des Jahres in Kraft traten. In der Praxis allerdings war die Oper bereits für Juden verbotenes Terrain, wie die Nazis nach dem »Anschluss« deutlich gemacht hatten, als sie elf »rassisch unwerte« Orchestermitglieder entlassen und zudem versucht hatten, Bruno Walter zu verhaften, der aber zu dieser Zeit gerade in Amsterdam dirigierte. In Annelores Augen galt für die Oper »Judenverbot«. Obwohl sie zum Vergnügen hinging, waren diese Opernbesuche auch eine Art, den Nazis zu trotzen, so wie die Lebensmittel, die sie Käthe ins Gefängnis schmuggelte. Das Risiko war ihr sicher bewusst, aber wahrscheinlich fand sie das alles auch aufregend. In ihrem Erinnerungstext schrieb sie: »Es gab etwas, worauf ich bestand: Obwohl Juden nicht die Oper oder das Theater besuchen durften, ging ich hin, egal welches Risiko das war. Damals habe ich den Reiz des Stehplatzes entdeckt. Ich stand die ganze Oper hindurch, ich fand das wunderbar und vergaß die trübselige Welt draußen.«
Mehr als 1700 Wiener Juden wurden in den ersten fünf Monaten nach dem »Anschluss« römisch-katholisch. Unter ihnen war Annelore. »Es wurde beschlossen, dass ich keine Jüdin mehr sein sollte«, erinnerte sie sich. »Viele Leute dachten so; ein Franziskanerpater führte eine große Klasse von Leuten, die übertreten wollten.« Einige Jahre zuvor hätte sie wegen ihrer Abneigung gegen das Judentum und ihrer Sehnsucht, wie Hermine, Gretl und Käthe Katholikin zu sein, die Gelegenheit mit Freuden ergriffen. Doch 1938, als 16-jährige, war Annelore skeptisch gegenüber jedweder organisierten Religion. So wie der Romancier Felix Dahn möglicherweise durch sein Buch »Ein Kampf um Rom« ihre Abneigung gegen das Judentum gefördert hatte, so drückte er auch ihre Ansicht vom Christentum aus, wenn er sie nicht sogar formte: »Götterglauben ist kindlich. Gott leugnen ist Wahnsinn. Gott suchen ist alles.« Die Entscheidung, dass Annelore übertreten sollte, wurde von Gretl und Käthe getroffen.
Sie wussten, dass nach den Nürnberger Gesetzen Annelore in den Augen der Nazis Jüdin bleiben würde, dennoch hofften sie, ihr Übertritt würde sie in Wien schützen. Als Katholikin, glaubten sie, hätte sie ein sichereres und leichteres Leben, wo immer sie auch als Flüchtlinge landen würden. Für Käthe war die Konversion auch eine Glaubensfrage; nicht so für Gretl, die eine Taufscheinkatholikin geworden war. Anne schrieb, Käthe sei »sehr erfreut« gewesen, dass »sie ein Mitglied
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