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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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der katholischen Kirche werden sollte«. Die Konversion war etwas, »das Käthe sich immer gewünscht hatte«.
    Einmal erkundigte ich mich nach Annes Vater Paul Herschmann. Hatte er versucht, ihre Taufe zu verhindern? Anne wusste nicht genau, ob Paul sich in Wien aufhielt, als sie konvertierte, oder ob er bereits vor den Nazis geflohen war. Sie erinnerte mich daran, dass sie seit dem Streit wegen des Cellos keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Sie hatten einander nie Lebewohl gesagt. Tatsächlich war Paul nicht nur noch in Wien, er war auch in Kontakt mit Gretl, wenn auch nicht mit Annelore geblieben. Als Annelore im Juli gemäß der »Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden« eine Liste ihrer Besitztümer anfertigte, unterschrieb Paul als ihr Vater und gesetzlicher Vormund. Möglicherweise spielte er bei der Konversion einen Monat später dieselbe Rolle; jedenfalls erhob er keine Einwände.
    In jedem anderen Sommer hätte Annelore Gretl oder Käthe überredet, mit ihr nach Hinterbichl zu fahren; ihre Begeisterung für die Wiener Sängerknaben war ungebrochen, obwohl die Nazis Chordirektor Schnitt entlassen hatten, da er ein politischer Gegner war. Annes Erinnerung nach bedeutete der »Anschluss«, dass Gretl und Käthe nicht mit ihr hinfahren konnten. Tatsächlich aber versuchten viele jüdische Familien, den Sommer 1938 wie jeden anderen zu verbringen; sie fuhren in ihre Häuser, mieteten Villen für den Sommer oder gingen in Hotels oder Pensionen. Gretl und Käthe wollten das wahrscheinlich nicht tun, weil in Wien womöglich etwas zu erledigen war, um die Abreise zu beschleunigen. Sie wussten, es wäre töricht, Urlaub zu machen, wenn sie eigentlich hätten fliehen sollen. Zudem versuchte Käthes Anwalt, ihren Schmuck zurückzubekommen. In dem Bericht, den sie an Gauleiter Bürckel über die Geschehnisse schickte, als SS und Gestapo ihre Wohnung durchsucht hatten, betonte sie, sie wolle den Schmuck nicht nur wegen des Geldwerts, sondern auch aus emotionalen Gründen. Sie unterstrich zudem, die Beschlagnahme des Schmucks sei ungerechtfertigt, da ihre offizielle Identität als Jüdin bloß aufgrund der Nürnberger Gesetze festgelegt sei. Implizit verwahrte sich Käthe also dagegen, Jüdin zu sein.
    Annelore leitete ihren ersten christlichen Religionsunterricht in der Franziskanerkirche im ersten Bezirk dadurch ein, dass sie ein Neues Testament, ein Messbuch mit den Messen für alle Sonntage und kirchlichen Feiertage des Jahres und einen Katechismus kaufte, den sie mit etlichen Anmerkungen versah. Eine der Fragen, die eine lange Randbemerkung zur Folge hatte, lautete: Warum lässt Gott uns leiden? Eine andere: Sind alle Sünden gleich arg? Der Religionsunterricht, so erinnerte sich Anne, hatte keine Auswirkungen auf sie. Sie mochte zwar ihren Lehrer, Pater Elzear Wangler, glaubte aber nichts von dem, was er lehrte. Der Katholizismus blieb ihr fern, ja fremdartig. Sie hatte immer noch keinen Glauben, als Pater Elzear sie taufte; Käthe war Patin, Gretl ebenfalls anwesend – zum ersten Mal seit Hermines Totenmesse zwei Jahre zuvor war sie wieder in der Kirche. Doch als Annelore am Tag darauf die heilige Kommunion empfing, war sie gläubig, aus Gründen, die sie nie erklären konnte; ihr Glaube war noch dazu so stark, dass sie darauf bestand, Gretl und Käthe sollten ebenfalls regelmäßig in die Kirche gehen.

Die jüngst getaufte Annelore mit ihrem Kruzifix. September 1938.
    Gretl ließ immer dann von Annelore ein Fotoporträt anfertigen, wenn es an wichtige Ereignisse in ihrem Leben zu erinnern galt, vor allem wenn sie dann auch noch besondere Kleider und besonderen Schmuck trug. Annelores Taufe im September war wieder eine solche Gelegenheit, trotz des »Anschlusses«. Wie üblich gingen sie zu Jobst; er fotografierte Annelore mit seitlich eingerollten hochgesteckten Haaren und einer dünnen Kette um den Hals, sie trug das hellviolette Kleid, das sie bei der Taufe angehabt hatte. Das schönste von Jobsts drei Fotos zeigt sie im Profil, in der schlichtesten klassischen Pose. Auf einem anderen ist der Körper leicht zur Kamera gewandt, sie schaut hinauf und ein wenig zur Seite. Das dritte, das sie mit hängenden Schultern und gerade in die Kamera blickend zeigt, ist das am wenigsten gelungene, aber das aufschlussreichste: An der Kette um ihren Hals hängt ein kleines goldenes Kruzifix.

Visa
    WIE VIELE BUBEN und Mädchen in den zwanziger und dreißiger Jahren sammelte Annelore Briefmarken. Ich hatte

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