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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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beschrieb ihre Zeit mit Anni als eine der großen Erfahrungen ihrer Mädchenjahre und meinte, Anni habe sie »gerettet«. Besonders genoss sie die Gelegenheit, alltägliche, praktische Dinge zu erledigen, die vor dem »Anschluss« Sache der Hausbediensteten gewesen waren und es auch nachher noch waren, da die Nazis es Männern und Frauen jüdischer Herkunft anfangs noch gestatteten, christliche Hausmädchen zu haben. Sie sahen einander zum letzten Mal am 11. November 1938, dem Tag nach der »Kristallnacht«, dem Tag, bevor Annelore Wien verließ. Sie schenkte Anni einen silbernen Korb, der einmal Hermine gehört hatte, und eine Flasche Likör, wahrscheinlich bei Johann Timmels Witwe hergestellt. Anni revanchierte sich mit einer Fotografie, auf der sie Spitzen reinigte, »zur Erinnerung an unsere gemeinsame Arbeit«. Annelore hatte auch ein Foto von Annis Gehilfin Reserl, auf das sie später schrieb: »Anni’s Reserl, a good Nazi«.
    Auch Pater Elzear, der nach wie vor in der Franziskanerkirche Juden taufte, gab Annelore zu tun. Da viele der jüngst Konvertierten niemanden kannten, der ihr Taufpate hätte sein können, fungierte Annelore als Patin nicht nur für junge Mädchen, sondern auch für etliche Erwachsene. Jedenfalls erfüllte sie diese Funktion für Menschen, die sie gerade erst kennengelernt hatte und wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Als sie Wien verließ, war ihr Pater Elzear sehr wichtig geworden. Auf den letzten zwei Fotos, die sie in Wien aufnahm, war er zu sehen. Er schenkte ihr ein Bild von sich selbst und eine Ansichtskarte der Franziskanerkirche und schrieb darauf: »In ewiger, unwandelbarer Erinnenrung«. Annelore fiel der Abschied von ihm sehr schwer.
    Sie lernte nach wie vor Cello, das Einzige aus ihrem bürgerlichen Bildungskanon, das sie in diesen Monaten weiterbetrieb. Obwohl sie kein besonderes Talent zeigte, folgte Gretl der Familientradition und ließ sie von einer versierten Cellistin, Lucie Weiss, unterrichten, die in einem der besten Wiener Streichquartette spielte. Nach dem »Anschluss« hatte sie als Jüdin diese Stelle zwar verloren, aber sie unterrichtete nach wie vor Annelore und organisierte nebenbei ihre eigene Flucht nach New York.
    Ab dem Beginn der neuen Opernsaison im September ging Annelore mehr aus denn je, meist allein, mindestens einmal begleitet von Anni Wiesbauer. Sie mag wahrscheinlich ihr neues Kruzifix deutlich sichtbar um den Hals getragen haben, trotzdem waren solche Ausgänge nicht ungefährlich. Falls man sie als Jüdin erkannte, war das ein Risiko, ob nun in der Oper oder auf der Straße. Doch Annelore wollte unbedingt noch alles aus einer Welt herausholen, die für sie zu Ende ging. Ob Gretl, Käthe und sie nun nach Australien oder in die Vereinigten Staaten gingen, sie glaubte nicht, dass sie in den nächsten Jahren – wenn überhaupt – nach Europa zurückkehren würden. Sie sah keine Aussicht, dass die Herrschaft der Nazis in Österreich enden würde, und konnte sich eine Rückkehr nicht vorstellen. Zudem wollte sie sich unbedingt zerstreuen, und die Oper bot einen Zufluchtsort. Bis Ende September war sie elfmal dort, im Oktober verbrachte sie weitere achtzehn Abende dort und sah Vorstellungen von Wagners »Tannhäuser«, »Lohengrin« und »Die Meistersinger«, die, wie sie sich erinnerte, donnernden Applaus erhielten.
    Außerdem hörte Annelore die Wiener Sängerknaben noch öfter als sonst; ihre Konversion bedeutete ja auch, dass sie nun endlich in die Hofburgkapelle gehen konnte, wo der Chor jeden Sonntag in der Messe sang. Wie sie einige Jahre später schrieb, lernte sie »das Hochamt dort wie in keiner anderen Kirche lieben und schätzen«. Sie war zwar der Ansicht, der Nachfolger Rektor Schnitts »wusste wenig über die Buben und wenig über Musik«, trotzdem wollte sie sie hören, wann immer es nur möglich war. Das Programm in diesem Oktober war herrlich. Sie hörte die Sängerknaben in Mozarts »Krönungsmesse«, Schuberts Messe in F-Dur, Haydns »Theresienmesse«, Mozarts »Spatzenmesse« und Schuberts Messe in G-Dur, die sie alle wahrscheinlich noch nicht kannte. So wurde die Hofburgkapelle für sie das Symbol Wiens als Stadt der Musik. Sie war der Meinung, nie habe es eine »vollkommenere Verbindung von Kunst und Religion« gegeben.
    Auch Anfang November war Wien für sie immer noch die Stadt der Musik. Sie hörte in der Burgkapelle zu Allerheiligen eine Haydn-Messe und zu Allerseelen Mozarts »Requiem«; am Abend sah sie in der Oper

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