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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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»Salome« von Richard Strauss, am Freitag Mozarts »Don Giovanni«. Zwei Tage später besuchte sie wieder die Sonntagsmesse in der Burgkapelle.
    Gretl und Annelore wussten, dass am 9. November der »Blutzeugen der Bewegung« gedacht wurde, ein wichtiger nationalsozialistischer Gedenktag. Die Festlichkeiten an diesem Tag in Wien erinnerten an den 15. Jahrestag des fehlgeschlagenen Hitler-Ludendorff-Putsches. 3000 neue SS-Mitglieder marschierten vom späten Abend bis zum frühen Morgen auf und gelobten zu Mitternacht auf dem Heldenplatz Hitler die Treue. Diese Feiern waren ein besonderer Grund für Gretl, Annelore zum Daheimbleiben aufzufordern, doch es waren nur noch ein paar Tage bis zu ihrer Abreise, und Annelore bestand darauf, einen letzten Abend in der Oper zu verbringen. Zum dritten Mal in zwei Monaten sah sie Mozarts »Zauberflöte«. Als sie heimkam, notierte sie die Aufführung wie üblich in ihrem Konzertbuch. Ungefähr eine halbe Stunde danach erhielt die Wiener Gestapo aus München die Order, das Pogrom anzuzetteln, das später unter dem Spottnamen »Kristallnacht« bekannt wurde.
    Fünfzig Jahre später hatte Anne keine Erinnerungen mehr daran, auch nicht an die nächsten zweieinhalb Tage in Wien, in denen sie mehrmals durch die Stadt gegangen war. Sie hatte zwar ihr Konzertbuch konsultiert, als sie ihre Geschichte aufzeichnete, doch verwirrte sie der Eintrag für die »Zauberflöte«, da man das Datum auch als 3. November hätte lesen können, an dem Tag aber hatte es keine Aufführung der »Zauberflöte« gegeben, sehr wohl aber am 9. November. Anne las das Datum als 3., das passte zu ihrer Erinnerung, dass Gretl und sie Wien vor der »Kristallnacht« verlassen hatten, Käthe aber noch dort geblieben war, da sie ihrem Anwalt noch Zeit geben wollte, ihren Schmuck von der Gestapo zurückzubekommen. Anne schrieb: »Schließlich hatte er Erfolg, und sie reiste einige Tage nach uns ab; aber inzwischen hatte die Kristallnacht stattgefunden, und ich machte mir große Sorgen, ob sie es schaffen würde.«
    Dass sich Anne geirrt hatte, entdeckte ich, als ich mich nach ihrem Tod 2003 durch ihre Wiener Theaterbücher arbeitete und auf ihren Eintrag zur »Zauberflöte« stieß, dessen Datum ich sofort als 9. November entzifferte. Als ich in der Bibliothek das Datum verifizierte, überkam mich kurze Zeit Enttäuschung, dass ich ihr nicht mehr mitteilen konnte, was ich herausgefunden hatte, dass es zu spät war, ihr zu sagen, wo sie in der »Kristallnacht« gewesen war, zu spät, zu fragen, ob sie sich an irgendetwas erinnerte. Dann wurde mir klar, dass es bei all meiner Neugier vielleicht besser war, dass ich sie nicht auf diese Art behelligt hatte, wo sie doch ohnehin beim Schreiben ihrer Geschichte so verstört gewesen war, wie unzuverlässig das Gedächtnis sei. Ich hätte bloß noch ihre Zweifel über das verstärkt, was sie als Mädchen getan hatte und wer sie gewesen war.

Ausflüchte
    DIE UMFASSENDSTE UNTERSUCHUNG über die in Wien nach dem »Anschluss« geraubten Kunstschätze stammt von der Kunsthistorikerin Sophie Lillie. Die 1439 Seiten ihres Buches »Was einmal war« dokumentieren die 148 größten Sammlungen und deren Besitzer, sie verzeichnen, was die Nazis raubten und welche Rolle wichtige Funktionäre spielten. Lillie zeigt auch, wo diese Sammlungen situiert waren, und schuf damit eine bemerkenswerte Landkarte des Reichtums, ein Verzeichnis des Diebstahls, eine Geografie des Verlusts. In einer einzigen Straße im ersten Bezirk, der Rathausstraße, befanden sich vier beschlagnahmte Sammlungen, in der Wohllebengasse waren es deren drei. Der Kaufmann Fritz Wolff-Knize und seine Frau Anna besaßen eine der großen Sammlungen moderner Kunst sowie einen bemerkenswerten Raum mit ethnographischen Sammelstücken. Die Immobilienmagnaten Gottlieb und Mathilde Kraus sammelten österreichische Kunst des 19. Jahrhunderts. Der Maler Wilhelm Krausz kombinierte Alte Meister mit Louis-XIV-Möbeln, barocken Kruzifixen, persischen Teppichen und einem Bronzebuddha.
    Die Dichte dieser Sammlungen im Jahr 1938 ist umso bemerkenswerter, da in der Wohllebengasse auf einer Seite nur zehn und auf der anderen neun Häuser stehen. Die Bedeutung dieser Gasse in Lillies Buch ist ein Zeugnis für den Reichtum ihrer Bewohner, ihren Kunstgeschmack und ihre jüdische Herkunft. Da die Nazis die gesamten Kraus- und Krausz-Sammlungen beschlagnahmten, ebenso die ethnographische Sammlung der Wolff-Knizes, war die Wohllebengasse einer der

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