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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Ordnung«, schrieb sie, nachdem sie wieder mit Käthe vereint waren.
    Die Staaten, die den Flüchtlingen vor Hitler 1938 Transitvisa ausstellten, räumten ihnen sehr wenig Zeit vor der Weiterreise ein. Als Käthe in St. Gallen eintraf, waren Gretls und Annelores Visa nur noch für fünf Tage gültig. Einen Teil des ersten Tages verbrachte Annelore im Textilmuseum, wo sie sich über Spitzen kundig machte, am nächsten hörte sie sich eine Radioübertragung von Verdis »Maskenball« an, die letzte Oper, die sie in Europa hören sollte. Dann fuhr sie mit Gretl und Käthe über das Wochenende nach Luzern, Küssnacht und Zürich. Am Sonntag ging Annelore mit Käthe in die Messe, wieder ein Hinweis darauf, dass bei Käthe Annelores neuer Glaube tiefer ging als bei Gretl. Am Montag mussten sie abreisen.
    1938 nahm fast niemand ein Flugzeug, es war einfach zu teuer. Viele Flüchtlinge aber hatten keine Wahl, wenn sie nach England mussten und keine Transitvisa für die Reise quer durch Kontinentaleuropa bekamen. Für beinahe alle war diese erste Erfahrung in einer kleinen, niedrig fliegenden Maschine ohne Druckausgleich in der Kabine aufregend und beängstigend. Bei Gretl, Käthe und Annelore, die ab Zürich flogen, war das nicht anders. In ihrem Tagebuch strich Annelore besonders den Beginn der Flugreise hervor, als prächtiges Wetter herrschte und sie auf die Alpen hinunterschauten. Fünfzig Jahre später erinnerte sie sich bloß noch, wie das Wetter sich verschlechterte, wie ihr übel wurde und sie sich fürchtete, während Gretl Angst hatte, sie würden nach einer Notlandung verhaftet werden, da sie keine französischen Visa besaßen. Nach der Landung unterstrichen die Stempel in ihren Pässen – »Landung nur bei Direkttransit aus dem Vereinigten Königreich nach Australien« –, dass auch Großbritannien sie nicht haben wollte. Aber die Beamten waren weit freundlicher als ihre deutschen und Schweizer Kollegen. »Netter Zoll«, notierte Annelore.
    Alle drei wussten, wohin sie in den nächsten vier Tagen gehen und was sie besichtigen wollten. 1936 hatte Annelore in einem Schulaufsatz den Blick von der Spitze der St.-Pauls-Kathedrale beschrieben, die Themse stromauf- und -abwärts, über das Parlament und die Westminster Abbey. Gretl, Käthe und sie besuchten alle diese Orte. Sie sahen sich den Wachwechsel am Buckingham Palace an, den Trafalgar Square, Piccadilly Circus, den Tower, die Wallace Collection und die Tate Gallery. Dann inspizierten sie noch einige der berühmten Kaufhäuser, doch kauften sie nichts, zum ersten Mal in ihrem Leben, da sie weniger Geld hatten als je zuvor. Anschließend nahmen sie den Zug nach Southampton, dem wichtigsten englischen Passagierhafen. Unmittelbar vor dem Ablegen schickte Käthe einen Brief an die Schwestern Moll und beschrieb die »herrlichen Dinge«, die sie gesehen hatten.
    Als ich als Junge die Wohnung in Cremorne besuchte, waren etliche ihrer Koffer noch vorhanden, voller Aufkleber von ihren Reisen. Nun existiert nur noch einer, Käthes Hutkoffer, die Aufkleber berichten von Aufenthalten im Hotel Österreichischer Hof in Salzburg und im Grand Hotel Metropol in Mailand sowie von der Reise Gretls, Käthes und Annelores ab Southampton. Der Aufkleber zeigt, dass sie mit der
Baloeran
fuhren, einem Rotterdamer Lloyd-Ozeandampfer, der 400 Passagiere befördern konnte. Sie waren in Kabine 83 auf dem Erste-Klasse-Deck untergebracht, ein privilegiertes Terrain, das die Passagiere der Zweiten und Dritten Klasse nicht betreten durften.
    Sie fuhren durch das Mittelmeer, den Suezkanal, das Rote Meer und über den Indischen Ozean nach Ceylon (wie Sri Lanka damals hieß), Singapur und Java. Der erste Aufenthalt war Lissabon, dann folgte Tanger, wo sie an Bord der
Baloeran
blieben, da man nur in einem kleinen Boot ausschiffen konnte und die See zu stürmisch war. Ähnliche Umstände verhinderten eine Landung in Gibraltar, doch in Marseille, Port Said und Colombo konnten sie anlegen. Ihr Ziel war Batavia, die Hauptstadt von Niederländisch-Ostindien – heute Djakarta, die Hauptstadt von Indonesien –, das sie am 22. Dezember, vier Wochen nach der Abfahrt aus England, erreichten.
    Unterwegs genoss Gretl die Gelegenheit, ihren Schmuck, den sie von Dr. Widmer zurückerhalten hatte, bei den eleganten Diners und Tanzveranstaltungen der Ersten Klasse auszuführen. Annelore hatte zwar ihr Leben lang Gouvernanten gehabt und war von Hausmädchen bedient worden, nun aber genierte es sie, dass sie einen

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