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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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die Kontrollen der Nazis auf die Probe zu stellen. Besonders Frauen, die oft das Packen übernahmen, waren dazu bereit, zum Beispiel Fanny Kallir, die Frau des Kunsthändlers Otto Kallir. Als die Kallirs mit ihren beiden Kindern im Juni 1938 in die Schweiz flüchteten, versteckte Fanny einige Goldmünzen in einem Körbchen unter den Haarschleifen ihrer Tochter, ohne Otto etwas davon zu sagen. Gretl und Annelore wurden vor dem Grenzübertritt durchsucht, doch den Beamten fiel nichts Ungewöhnliches an Gretls Knöpfen auf.
    Ihr Ziel war St. Gallen, weil Dr. Widmer dort wohnte. Als sie am 13. November eintrafen, war Onkel Emil, wie Annelore ihn nannte, da, um sie in Empfang zu nehmen. Am Nachmittag schrieb Annelore Briefe, um den drei Menschen zu danken, die in Wien am meisten für sie getan hatten – Pater Elzear, Anni Wiesbauer und ihre Cellolehrerin Lucie Weiss. Mit typischer Lakonie begann sie auch ein neues Tagebuch und beschrieb darin ihre Flucht in einem einzigen Satz auf zwei Zeilen. So wie sie weder Begeisterung noch Erleichterung erkennen ließ, Wien verlassen zu haben, so drückte sie auch weder Aufregung noch Angst über das Kommende aus.
    Da Gretl und sie keine Ahnung hatten, ob sie je nach Europa zurückkehren würden, hatten sie allen Grund, ihre Reise als ungeplante Ferien zu betrachten, als Gelegenheit, mehr von der Welt zu sehen. Gretl war bereits in der Schweiz gewesen, Annelore nicht. Da sie es gewohnt waren, sich auf Reisen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Kultur und Natur anzusehen, hielten sie es auch diesmal so. Zuerst besichtigten sie die im Rokokostil erbaute Stiftskirche und fuhren mit Dr. Widmer durch das Appenzell. Dann ging Annelore allein ins Kunstmuseum und danach mit Gretl zum Bahnhof, um Käthe abzuholen. Als diese nicht ausstieg, geriet Gretl in Panik, entdeckte sie dann aber im letzten Waggon, wo sie noch dabei war, ihre zahlreichen Gepäckstücke zusammenzuraffen.
    Das Timing der abschließenden Verhandlungen über den Schmuck zwischen der Gestapo und Käthes Anwalt Stephan Lehner hätte kaum ungünstiger sein können. Am 12. November, Käthe war noch in Wien, verkündete eine unter dem Vorsitz Görings in Berlin abgehaltene Konferenz über die »Judenfrage« neue antisemitische Maßnahmen. Die bizarrste stellte einen Zusammenhang zwischen den Morden, Plünderungen und Zerstörungen in der »Kristallnacht« mit dem Mord an einem deutschen Diplomaten in Paris her; der Mörder war ein junger Jude, dessen Familie zu den Tausenden in Deutschland lebenden polnischen Juden gehörte, welche die Nazis mit vorgehaltenem Gewehr aus ihren Wohnungen geholt und mit der Eisenbahn abzuschieben versucht hatten, worauf die polnische Regierung ihnen die Einreise verwehrt hatte. Als Teil der Vergeltungsmaßnahmen für die »Kristallnacht« wurde die sogenannte Judenkontribution eingeführt, eine Milliarde Reichsmark (das entspricht etwa vier Milliarden Dollar oder 3,12 Milliarden Euro nach heutigem Geld), die alle Juden in vier Raten zahlen sollten.
    Stephan Lehner war einer der vielen Anwälte, die vom »Anschluss« profitierten. Er war bald danach in die Arisierung des Vermögens reicher Juden eingebunden, darunter Gottlieb und Mathilde Kraus, die in der Wohllebengasse 16 wohnten, und nebenbei für die Gestapo tätig. Doch er vertrat Käthe auf kompetente Weise. Nachdem er ihre Freilassung aus der Hahngasse ausgehandelt hatte, war er auch im November erfolgreich, als er ihr die Genehmigung sicherte, ihren Schmuck in die Schweiz mitnehmen zu dürfen, falls sie ihn zu einem überhöhten Schätzwert zurückkaufte, den ein von der Gestapo beschäftigter Gutachter festgelegt hatte. Die nominellen Kosten waren hoch, doch der Preis bedeutungslos, da Käthe sehr an ihrem Schmuck hing und ihr Geld beim Verlassen Österreichs ohnehin nicht mitnehmen konnte.
    Das Risiko, das Käthe durch ihr Bleiben auf sich nahm, war hoch. Ihre letzten drei Tage in Wien waren mindestens so beängstigend wie die Haft acht Monate zuvor. Um nicht wieder aufgegriffen zu werden, versteckte sie sich in diesen Tagen in Lehners Auto. Da es keine Möglichkeit gab, mit Gretl und Annelore in St. Gallen in Kontakt zu treten, ließ wahrscheinlich Lehner die beiden wissen, welchen Zug Käthe nehmen wollte. Doch als Gretl und Annelore zum Bahnhof gingen, wussten sie immer noch nicht, ob sie entkommen hatte können. Annelores Tagebuch enthält den einzigen Hinweis auf ihre Ängste, den einzigen Ausdruck ihrer Erleichterung: »Alles in

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