Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
lang.
Verlust
DIE AUSTRALISCHE REGIERUNG hatte nichts dagegen, wenn hohe britische Beamte wie Sir Harry Luke ihren Einfluss geltend machten, um bestimmten Flüchtlingen australische Visa zu verschaffen; so funktionierte eben das Empire, als Australien noch an Großbritannien gebunden, wenn auch keine Kolonie mehr war. Doch die Regierung erwartete nicht, »dass so viele Australier sich die Sache der Juden zu eigen machen und Eingaben an die Verwaltung einbringen« würden. Einer dieser Australier war William O’Sullivan, Besitzer einer Firma in Brisbane, die aus wiederverwertetem Material Pappe erzeugte, wobei er dieselbe Methode verwendete wie die Jacobis in Wien. Im September 1938 besorgte er Visa für Erni und Mizzi, die sofort ihre Abreise vorzubereiten begannen. Sie beschafften sich neue Pässe, engagierten eine Umzugsfirma, die ihre Einrichtung verpackte, sodass sie in Container geräumt werden konnte, und zogen in eine andere, möblierte Wohnung, während sie weitere Vorbereitungen trafen. Doch wie viele Paare, die vor den Nazis flüchteten, gingen sie nicht gemeinsam. Als Erni im Jänner 1939 abreiste, blieb Mizzi in Wien.
Einer der Gründe war der Zustand ihrer Ehe. Erni hatte einen Großteil der 1930er Jahre, nachdem er und Hermine Johann Timmels Witwe verkauft hatten, in Fulnek verbracht, wo er sich als Investor in das Familienunternehmen Hamburger um die Essigfabrik der Firma kümmerte. Er war der archetypische Playboy, besaß mehrere Sportwagen, fuhr Rennen, war ein rasanter Fahrer und hatte mehrere Geliebte, die letzte von ihnen in Wien, nachdem er den Großteil seines Kapitals auf die Jacobi-Fabriken umgeschichtet hatte. Wenn sie sonntags in den Eislaufverein zum Schlittschuhlaufen ging, so erinnerte sich Anne, walzte Erni mit ihr, bis »Frau Roth« kam. Wenn er seine Freundin schon vor Annelore nicht versteckte, dann mussten auch seine Familie und seine meisten Freunde und Bekannten Bescheid wissen, denn der Eislaufverein war schwerlich ein diskreter Treffpunkt.
Der Hauptgrund aber, warum Mizzi blieb, war ihre verwitwete Mutter. 1938 war Anna Jacobi 64, ein Alter, in dem einen kein Land wollte. Das Dilemma für Tausende jüdische Familien war akut. Sie mussten wählen: Entweder blieben sie gemeinsam in Österreich, oder die Kinder ließen ihre Eltern zurück. Mizzis jüngere Schwester Fini war im November nach Australien gegangen, sie hatte eine Einreisegenehmigung erhalten und musste bei einem Arzt in Melbourne arbeiten, Mizzi und ihr Bruder Fritz jedoch blieben in Wien, und Mizzi beschloss, nur zusammen mit Anna zu fahren. Als Erni Anfang 1939 nach Australien abreiste – Erster Klasse wie Gretl, Käthe und Annelore, die erforderlichen 200 Pfund im Gepäck –, übersiedelte Mizzi in die Wohnung der Jacobis in der Piaristengasse, um bei ihrer Mutter zu sein.
Viele Staaten verschärften nach der »Kristallnacht« die Einwanderungsbedingungen für Juden, da sie Flüchtlingsströme fürchteten. Die australische Regierung behauptete, sie würde mehr aufnehmen, senkte aber die jährliche Zahl von 5100 auf 5000. Dann lockerte sie die Beschränkungen wieder und führte eine neue Quote von 500 für Männer und Frauen über 55 ein, deren Kinder bereits als Flüchtlinge in Australien lebten. Diese Quote gab Anna Jacobi eine Chance. Sobald Erni nach Melbourne kam, wo Fini Jacobi bereits berufstätig war, suchte er um eine Erlaubnis für Mizzi als Migrantin an, und dann beantragten Fini und er Einreiseerlaubnis für Anna und Fritz.
Der Regierung war vor allem daran gelegen, dass die Flüchtlinge, die sie aufnahm, den australischen Steuerzahlern nicht zur Last fielen. Erni und Fini mussten nachweisen, dass sie Mizzi, Anna und Fritz erhalten konnten, wobei sich das auf Kapital und Einkommen bezog. Erni war zwar arbeitslos, er hatte aber seine 200 Pfund Landungsgeld und Aussicht auf weitere 400 Pfund, »die nächstens zu erwarten« seien. Fini hatte nur 50 Pfund, das war alles, was sie als Flüchtling mit einem Bürgen brauchte, sie verdiente aber zusätzlich ein Pfund fünfzehn Shilling pro Woche, dazu hatte sie Kost und Quartier. Zu zweit reichte das. Anfang Juni schickte die Regierung Erni drei Einreisegenehmigungen.
Ihnen allen, auch denen, die weit entfernt waren, war nur zu klar, welche Gefahr es bedeutete, in Wien zu bleiben. Annelores ehemalige Cellolehrerin Lucie Weiss schrieb aus New York: »Meine arme Mutter bleibt in Wien. Sonst sind keine meiner engsten Verwandten dort. Gott sei Dank.« Mizzi
Weitere Kostenlose Bücher