Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
auszukurieren, und sie dann in Wien öfter getroffen, wo sie bald Nenntanten Annelores worden. Der »Anschluss« setzte dieser Freundschaft keineswegs ein Ende, es brachte die Gallias und Molls einander nur noch näher. Als Gretl sie um Hilfe bat, stimmten sie sofort zu, hielten es aber für zu riskant, wenn sie zu ihrem Haus kam, da die Hausmeisterin Nationalsozialistin war und ihren Besuch hätte melden können. Gretl dachte wahrscheinlich, auch für die Molls wäre es gefährlich, wenn sie in ihre Wohnung kam. So vereinbarten sie, es sei am sichersten, den Schmuck in aller Öffentlichkeit statt insgeheim zu übergeben. Sie trafen sich auf der Straße.
Eine noch größere Herausforderung war es für Gretl, ihren Schmuck außer Landes zu schaffen. Besonders geeignet für die Beförderung kleiner Gegenstände waren die Diplomatenbeutel der ausländischen Botschaften. Kurz bevor Freud im Juni 1938 Österreich verlassen hatte, hatte eine seiner glühendsten Anhängerinnen, Marie Bonaparte, Frau von Prinz Georg von Griechenland, Freuds Goldmünzensammlung im Beutel der griechischen Botschaft über die Grenze geschafft. Gretl wandte sich nun an einen Beamten der bulgarischen Botschaft, der im Erdgeschoß der Wohllebengasse wohnte, also einer ihrer Mieter war. Als er zustimmte, Gretls Schmuckkollektion dem verlässlichsten Freund der Gallias in der Schweiz, Dr. Emil Widmer, zu bringen, war das Risiko hoch. Marie Bonaparte hatte garantieren können, dass die griechischen Diplomaten Freuds Goldmünzen ablieferten, Gretl hingegen hatte keinen Einfluss auf den bulgarischen Beamten. Falls er sich mit ihrem Schmuck davonmachte, gab es keine Hilfe, da sie ja gegen die Gesetze handelte. Sie hatte Glück: Abgesehen von einer kleinen Diamantblume lieferte er den Schmuck vollständig bei Dr. Widmer ab.
Nach der herkömmlichen Vorstellung, die man sich von Flüchtlingen macht, hätten Gretl, Käthe und Annelore auf fahrende Züge auf- und von ihnen abspringen müssen, sie wären auf ächzenden Seelenverkäufern unterwegs gewesen, hätten nachts Grenzen überquert. Doch es gab immer auch Flüchtlinge wie den Schriftsteller Vladimir Nabokov, der Sowjetrussland im November 1917 in Gamaschen und Melone verließ, im Schlafwagenabteil Erster Klasse ans Schwarze Meer reiste und dann auf der Überfahrt nach Marseille auf einem Schiff der Cunard-Linie den Foxtrott lernte. Bis November flüchteten viele, darunter auch Gretl, Käthe und Annelore, ebenfalls Erster Klasse, da die Nazis ihnen zugestanden, für die Reise auszugeben, so viel sie wollten, auch wenn sie ihr restliches Geld zurücklassen mussten.
Die übliche Ausreise ging mit der Eisenbahn vor sich. Flüchtlinge pflegten allein zum Bahnhof zu gehen, da es für Verwandte oder Freunde zu gefährlich war, sie zu begleiten. So blieben denn auch Erni und Mizzi fern. Nachdem sie sich durch die Aufbewahrung von Gretls Schmuck bereits in Gefahr gebracht hatten, riskierten es die drei Schwestern Moll noch einmal und gingen zum Westbahnhof, um am 12. November Gretl und Annelore Lebewohl zu sagen. Wie Anne sich erinnerte, war sie am Boden zerstört, weil Käthe nicht mit ihnen fuhr. Ihr Erinnerungstext lässt vermuten, dass Gretl und sie Käthe angefleht hatten, sie zu begleiten, doch diese lehnte ab, da ihr Anwalt der Meinung war, er werde bald die Gestapo überzeugt haben, ihren Schmuck herauszugeben und ihr zu erlauben, ihn außer Landes zu schaffen.
Gretl war fest entschlossen, noch mehr von ihrem Eigentum mitzunehmen; sie hatte Angst, Annelore und sich selbst in Australien nicht durchbringen zu können, da sie ja noch nie zuvor gearbeitet hatte. Sie besaß eine kleine Sammlung Hundert-Franc-Münzen aus Monaco – typisches Investitionsgold, möglicherweise von dem Geld erworben, das sie vor der Flucht durch den Verkauf anderer Gegenstände eingenommen hatte, so wie es bei Freud der Fall gewesen war. Als ich noch ein Junge war, erzählte mir Gretl, wie sie die Münzen mit Stoff überzogen und statt der Originalknöpfe an ihren Reisemantel genäht hatte.
Auch hier war die Sache nicht ungefährlich. Freuds ältester Sohn Martin erinnerte sich, dass man ihm vor seiner Abreise aus Österreich im Mai 1938 erzählt hatte, ein Jude sei aus einem Zug geholt und erschossen worden, weil man in seiner Aktentasche Briefmarken gefunden hatte. Und so gab Martin denn auch sein restliches Geld einem Wiener Freund, statt den Versuch zu wagen, damit zu entkommen. Andere Flüchtlinge entschlossen sich,
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