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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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eigenen indonesischen Diener hatten, der im Schneidersitz vor ihrer Erste-Klasse-Kabine saß und auf ihre Befehle wartete. Am besten fühlte sie sich, wenn sie im Schiffskindergarten aushelfen durfte, dort konnte sie die Art nützliche Arbeit erledigen, die ihr bei Anni Wiesbauer so gefallen hatte. In den Häfen hatten Gretl, Käthe und sie noch oft Gelegenheit zum Einkaufen, doch sie kauften immer noch fast nichts. Ein Batiktuch, das Gretl über ihren Schreibtisch in Sydney breitete, war eine seltene Ausnahme.
    Auf der Reise erwartete sie in beinahe jedem Hafen Post von den Molls. Man hieß Gretl, Käthe und Annelore auch überall willkommen – eine häufige Erfahrung von Flüchtlingen unmittelbar nach der »Kristallnacht«, als die internationale Empörung über die Verfolgung der Juden durch die Nazis einen neuen Höhepunkt erreichte. Manche Flüchtlinge reisten via Kanada nach Australien und wurden dort bei Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Montreal untergebracht; während der Eisenbahnfahrt mit der Trans-Canada Railway quer durch die Prärie wurden sie von anderen Juden zum Essen eingeladen, und schließlich unternahm der Bischof von Honolulu mit ihnen einen Ausflug, als sie über den Pazifik nach Sydney fuhren. Dank John Osborn, Gretls Freund in Manila, kümmerte man sich auf ähnliche Weise auch um Gretl, Käthe und Annelore; in etlichen Häfen erwarteten sie Quäker, die ganz allgemein eine führende Rolle bei der Hilfe für Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich spielten, so wie es ihrem Anliegen, der Hilfe für verfolgte Minderheiten, entsprach.
    Wie vielen anderen Flüchtlingen war den Gallias ein solcher Empfang nicht unbedingt angenehm. Als Mitglieder des gehobenen Bürgertums betrachteten sie sich als Spender, nicht als Empfänger von Wohltätigkeit; sie hatten keine Erfahrung darin, sie entgegenzunehmen. Ihre neue Lage war ein Anlass für Verlegenheit, sogar Demütigung. Sie waren zwar froh, dass man sie abholte, mussten aber noch lernen, Hilfe zu akzeptieren. Wie Gretl später meinte: »Das Schwierige war vor allem, dass wir zum ersten Mal in unserem Leben etwas annehmen mussten und nichts geben konnten.«

Gretl und Annelore, Foto im Telegraph (Brisbane) vom 4. Jänner 1939.
    Die letzte Etappe ihrer Reise fand auf der
Nieuw Zeeland
statt, einer der »großen weißen Jachten« der Royal Packet Navigation Company. Die Route führte sie entlang der Küste von Java nach Bali und Macassar und dann durch die Torres-Straße. Der erste australische Hafen war Brisbane, wo sie nur vier Stunden lang blieben; die Gallias schafften es aber dennoch in das Lokalblatt
Telegraph
, das oft Fotos von schicken Damen brachte, die sich auf Reisen begaben oder heimkehrten. Eines dieser Fotos vom 4. Jänner 1939 hieß »Arriving from Vienna«. Es zeigte beide mit strahlendem Lächeln, Annelores Kruzifix ist deutlich zu sehen. Der Begleittext erläuterte nicht, warum sie gekommen waren. Er lautete: »Mrs. Margaret Herschmann-Gallia und ihre Tochter Miss Annelore Herschmann-Gallia passierten heute Vormittag Brisbane auf dem Weg nach Sydney.« Der
Telegraph
gab auch über Käthe einiges preis, war aber trotzdem zurückhaltend und beschrieb sie als »Doktor der Naturwissenschaften; sie hofft hier einen Anwendungsbereich für ihre Arbeit zu finden, die in Wien durch die deutsche Okkupation unterbrochen wurde«.
    Die Einreisepapiere, die sie in Brisbane ausfüllten, fassten ihre Lage zusammen. Gretl und Käthe besaßen jede die von erwachsenen nichtbritischen Einwanderern verlangten 200 Pfund, Annelore 100. Als sie in Sydney eintrafen, hatten sie vor, in der Catholic Women’s Association nahe dem Stadtzentrum unterzukommen. Sie kannten keinen Menschen. Als sie Namen und Adressen von zwei Verwandten oder Freunden in Australien nennen sollten, blieb ihnen nur, »Sir Harry Luke, Gouverneur von Fidschi und den Westpazifischen Territorien, Suva« anzuführen.
    In Sydney wurden Gretl, Käthe und Annelore abgeholt; drei neue Organisationen kümmerten sich dort um Flüchtlinge. Eine war die von australischen Juden britischer Herkunft zur Hilfe für ihre Glaubensgenossen gegründete Jewish Welfare Society, die zweite das Continental Catholic Migrants Welfare Committee, gebildet von einheimischen Katholiken, die dritte das Germany Emergency Fellowship Committee, das vor allem protestantischen Flüchtlingen und solchen ohne Glaubensbekenntnis half, aber auch Juden und Katholiken beistand. Es verdankte seine Existenz den

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