Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
auszusuchen, solange noch die größtmögliche Auswahl bestand. Laut Zeitungsberichten wurden sieben Gemälde verkauft. Die offenkundige Sexualität der »Goldfische« war den Wiener Sammlern zu viel, einer der Gründer der Wiener Werkstätte, Fritz Wärndorfer, erwarb jedoch die »Pallas Athene«. Hermine und Moriz wählten eine von Klimts Landschaften, die weit weniger kontroversiell waren, aber dennoch wütende Reaktionen hervorriefen und oft erst nach Jahren verkauft wurden. »Die Leute wälzten sich vor Lachen«, schrieb Ludwig Hevesi 1898 über die Reaktion auf Klimts »Seidenäpfel«. Ein anderer Kritiker meinte über die Klimt-Kollektive, dass die Landschaften »in eine Mars- oder Neptun-Ausstellung gehörten ... Auf unserem Erdball sieht es, Gott sei Dank, denn doch noch anders aus.« Die Gallias entschieden sich für eine der Klimtschen Waldszenen, in denen er die Bäume aus so geringem Abstand malte, dass die Wipfel, wie es für ihn typisch ist, sich oberhalb des Bildrahmens befinden. Es war ein Buchenwald, den Klimt möglicherweise erst in jenem Sommer begonnen hatte.
Durch diesen Kauf änderte sich der Status von Hermine und Moriz in der Wiener Kulturelite. An dem Tag, an dem Hermine erstmals öffentlich als eines von Klimts Modellen auftrat, demonstrierten Moriz und sie ihren Reichtum, ihren Sinn für das Neue und ihre Wertschätzung für Klimt, indem sie noch ein weiteres seiner Gemälde kauften. Eines seiner Bilder mussten Hermine und Moriz besitzen, um als ernsthafte Sammler von avantgardistischer österreichischer Kunst zu gelten; zwei zu kaufen versetzte sie angesichts von Klimts hohen Preisen und geringem Output in eine andere Liga. Der einzige Sammler, der 1903 mehr Klimts besaß, war Fritz Wärndorfer, dessen Sammlung mit dem Kauf der »Pallas Athene« auf vier anwuchs.
Der Appetit von Moriz und Hermine auf Kultur war damit noch nicht gestillt. Am selben Abend standen in Wien verschiedene Aufführungen zur Wahl, von »Faust I« im Hofburgtheater bis zum regulären Samstagabendkonzert im Kursalon mit Musik von Johann Strauß. Nachdem sie tagsüber die aufregendste moderne Wiener Kunst bewundert und gekauft hatten, entschieden die beiden sich für noch etwas Neues. Die Kinder blieben bei der Gouvernante, während Moriz und Hermine den Abend im Volkstheater bei »Maria Theresia« verbrachten, der jüngsten Komödie von Franz von Schönthan, dessen Stücke sehr populär waren, doch auch der Avantgarde gefielen.
Gott
DIE MEISTEN BEWOHNER Wiens um 1900 waren zugewandert. Im 19. Jahrhundert schrumpften in ganz Europa Kleinstädte und Dörfer, während die Großstädte wuchsen; im Fall von Wien ging dies ungewöhnlich schnell vor sich. Aus den 445.000 Menschen, die 1850 dort gelebt hatten, waren 1900 1,6 Millionen geworden, was Wien nach London und Paris zur drittgrößten europäischen Stadt machte. Moriz und Hermine gehörten zu den Provinzbewohnern, die aus dem gesamten Habsburgerreich, besonders aus den tschechischen Kronländern, hierher strömten. Er stammte aus Südmähren, wo die Bevölkerung Tschechisch sprach, die meisten Juden sich jedoch des Deutschen bedienten, der Sprache der sozialen und wirtschaftlichen Aufsteiger. Sie kam aus Südschlesien, wo beinahe alle Deutsch sprachen.
Beider Familien waren wohlhabend. Moriz’ Vater Emmanuel Gallia war ein erfolgreicher Händler mit Agrarprodukten, Gastwirt und Grundbesitzer in Bisenz, einer Stadt mit ein paar Tausend Einwohnern und begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten. Hermines Vater, Nathan Hamburger, hatte es in Freudenthal, dreimal so groß wie Bisenz, weiter gebracht. Erst 23-jährig, hatte er 1864 eine der zwei Brauereien in der Stadt gepachtet; 1870 kaufte er sie und machte sie binnen kurzem zu einer der modernsten in Schlesien. Bald erzeugte er auch Malz für den Export und kaufte zwei Gasthäuser, ein Restaurant, eine Halle, ein Unternehmen, das Landwirtschaftsgerät verkaufte, und eine Molkerei und wurde zu einem der wohlhabendsten Männer in Freudenthal.
So wie Adelige Mitte des 19. Jahrhunderts oft untereinander heirateten, um ihren Reichtum und ihre Macht zusammenzuhalten, so hielt man es auch in der oberen Mittelklasse. Besonders die Rothschilds übten diese Praxis, das betraf vor allem Cousins ersten oder zweiten Grades, manchmal aber auch Onkel und Nichten. Von den 1820er bis in die 1870er Jahre fanden dreißig von 36 Rothschild-Heiraten innerhalb der Verwandtschaft statt. Die Gallias und Hamburgers hatten weitaus
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