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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Begeisterung eineinhalb Minuten lang nach der Melodie des »Triumphmarsches« aus Verdis »Aida«. Dann fährt er fort mit »Wenn der Auerhahn balzt«, dem Anfang eines alten bayerischen Jagdliedes, und verfällt in noch mehr La la la. »Sei gepriesen, du lauschige Nacht« ist sein Finale, die beliebteste Arie aus Carl Michael Ziehrers 1899 uraufgeführter Operette »Die Landstreicher«; diesmal singt Moriz eine Minute lang den ganzen Text.
    Es sind Stimmen, die zu vernehmen ich nie erwartet habe. Die einzigen frühen Tonaufzeichnungen, die ich gehört hatte, stammten von berühmten Leuten oder von ethnografischen Forschungsobjekten. Ich erinnere mich, wie überrascht ich eines Abends in Montreal war, als ein Programm von CBC Radio Oscar Wilde zu Gehör brachte, der angeblich kurz vor seinem Tod 1900 Teile seiner »Ballad of Reading Gaol« rezitiert hatte. Ich war überwältigt von der Entdeckung, dass Wildes Stimme möglicherweise erhalten geblieben war, zugleich aber abgestoßen von seiner affektierten Oberschicht-Sprechweise. Ich erinnere mich auch, völlig gebannt gewesen zu sein, als ich einige Jahre später in Canberra die 1899 und 1903 entstandenen Tondokumente von Fanny Cochrane Smith zu Gehör bekam, die ersten australischen Aufnahmen von Gesängen der Aborigines und die einzige Aufzeichnung einer der einheimischen tasmanischen Sprachen. Dass Mitglieder meiner eigenen Familie hätten aufgenommen werden können, kam mir nie in den Sinn.
    Dass Adolf so gut wie nicht zu verstehen ist, dass Moriz und er nichts Tiefgründiges sagen, dass ihre Stimmen keine Spur von Familienähnlichkeit erkennen lassen, ist mir egal, zu groß sind mein Entzücken, meine eigenen Vorfahren sprechen und singen zu hören, meine Überraschung und mein Erstaunen, dass Zylinder, die ihre Stimmen wiedergeben, mehr als ein Jahrhundert lang überlebt haben. Nachdem ich Moriz’ Aufnahme zum ersten Mal gehört hatte, trällerte ich monatelang Verdis »Triumphmarsch«. Doch auch das Faktum, dass Adolf und Moriz zu einer Zeit aufgenommen wurden, als sehr wenige diese Möglichkeit hatten, ist aufschlussreich. Es stellt die Gallias in die vorderste Front der Technologie um 1900.
    Die Aufnahmen wurden von dem österreichischen Forscher Carl Auer von Welsbach angefertigt, für den Moriz zwanzig Jahre lang und Adolf noch länger arbeitete. Österreichs Beitrag zur globalen Kultur um 1900 wird meist auf den Gebieten von Kunst, Musik, Literatur, Architektur und Geisteswissenschaften gesehen; Auer aber versetzte Österreich in der Grundlagenwissenschaft und den innovativsten Technologien in die vorderste Front. Er entdeckte und isolierte zwei Metalle der Seltenen Erden, die im unteren Bereich des Periodischen Systems angeführt sind. Zudem identifizierte er zwei weitere Elemente, deren atomares Gewicht allerdings ein anderer Forscher vor ihm bestimmt hatte. Durch Auers Erfindung des Glühstrumpfs und der Glühfadenlampe revolutionierte er die Beleuchtung weltweit.
    Ich entdeckte die Aufnahmen im Auer-von-Welsbach-Museum in der kleinen Kärntner Stadt Althofen, die ich auf der Suche nach Unterlagen über Moriz und Adolf aufsuchte. Museumsdirektor Roland Adunka erzählte mir, dass Auer sich sehr für neue Technologien interessiert, deshalb im Jahr 1900 Aufnahmen gemacht und dabei leere Edisonsche Wachszylinder verwendet habe. Auer hatte die Tonaufzeichnungen selbst durchgeführt. Er hatte sein erstes Kind aufgenommen, als es noch ein Säugling war und nicht sprechen konnte, den Baumeister seines neuen Schlosses, dazu drei seiner Bediensteten, darunter seine Köchin, zufällig eine der Urgroßmütter von Roland Adunka. Und seine engsten wissenschaftlichen und geschäftlichen Mitarbeiter. Die 21 erhaltenen Wachszylinder, darunter die mit den Stimmen von Adolf und Moriz, sind die ältesten erhaltenen Tondokumente, die in Österreich angefertigt wurden.
    Adolf und Moriz wurden Mitarbeiter Auers, weil er als Erfinder sehr erfolgreich war. Seine größten Leistungen waren neue Arten der Beleuchtung. Man nimmt meist an, die Überlegenheit der elektrischen Beleuchtung und ihr Triumph seien offensichtlich gewesen, als Thomas Edison 1879 seine ersten Glühbirnen vorgestellt hatte; die Wirklichkeit sah aber ganz anders aus. Zwanzig, ja dreißig Jahre lang war es nicht klar, ob sich die elektrische oder die Gasbeleuchtung durchsetzen würde, und Firmen auf der ganzen Welt investierten riesige Summen in die Aufgabe, beide Technologien zu verbessern und ihre

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