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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Auflage, das Datum jedes Verkaufs und die Namen der Käufer verzeichnet. Da es über sechzig dieser Bücher gab, alle riesige Foliobände, jeder mit Hunderten Seiten, hatte ich keine Chance, alle durchzugehen. Ich wusste nicht einmal, wo ich anfangen sollte. Doch als ich den ersten Band, den ich zur Hand genommen hatte, durchblätterte, fiel mir die Abbildung eines vertrauten Gegenstandes ins Auge – eine silberne Bonbonschale mit Lapislazuliperlen um den Rand und einem Perlmutteinsatz unter dem oberen Teil des Henkels.

Koloman Moser, Bonbonschale. 1903. Hermines erstes Stück aus der Wiener Werkstätte, ein Geschenk von Theobald Pollak.
    Diese Schale gehörte zu den markantesten Objekten aus der Sammlung Gallia. Es war nicht nur der einzige mit Halbedelsteinen geschmückte – wie bei den frühen Gegenständen der Werkstätte häufig zu finden – silberne Gegenstand, sondern auch eines von bloß zwei Stücken mit Hermines Monogramm und eines von vier, die sie von Koloman Moser besaß, dem anfangs neben Josef Hoffmann einzigen Designer der Wiener Werkstätte. Das Modellbuch erklärte, wie Hermine in den Besitz der Schale gekommen war. Im Unterschied zu den anderen Sachen aus der Wohnung in Cremorne, die ich später im WW-Archiv aufspürte, war die Schale nicht von Hermine gekauft, sondern von Theobald Pollak für sie bestellt worden; er hatte eben eine Wohnung in der Schleifmühlgasse gemietet, im selben Haus wie die Gallias, um ihnen nahe zu sein.
    Pollak war in guter Gesellschaft. Eines von Gustav Mahlers Geschenken an Alma war eine silberne, mit roten Korallen verzierte Schatulle von Moser, datiert mit dem Heiligen Abend 1902 und mit Almas Initialen versehen. Und Klimt hatte Emilie Flöge zu Weihnachten 1903 eine silberne Halskette von Moser geschenkt, mit einem großen, eiförmigen Stein in der Mitte und fünf orangefarbenen Halbedelsteinen, die zu einem Stern angeordnet an silbernen Kettchen hingen. Da Pollak zu den vielen assimilierten Wiener Juden gehörte, die das Weihnachtsfest mit Geschenken begingen, gab er die Moser-Schale möglicherweise Hermine zu diesem Anlass, vielleicht wartete er aber auch bis Neujahr, auch zu diesem Anlass machte er Geschenke. Wie immer, es war jedenfalls Hermines erstes Stück aus der Wiener Werkstätte.
    Die Gabe passt zum Bild Pollaks in Alma Schindlers Tagebüchern: Er habe peinlich extravagante Geschenke gemacht. Jedenfalls bezeugt es wieder einmal, wie nahe Pollak den Gallias stand; Gretl bezeichnete ihn als Moriz’ »besten und einzigen Freund«, die ganze Familie nannte ihn beim Vornamen. Doch das Geschenk zeigt auch, wie leicht es für Hermine war, zur Avantgarde der Mode in Wien zu gehören. Sie hatte ein scharfes Auge dafür, was besonders schik war, zugleich machten sie Freunde wie Pollak und Moll mit dem Neuen bekannt. Als Pollak ihr im Dezember 1903 die Schale schenkte, existierte die Wiener Werkstätte erst seit sechs Monaten. Während Hermines Porträt in der Klimt-Kollektive in der Secession in einem Moser-Raum gezeigt worden war, flankiert von Moser-Sesseln, erhielt sie das erste Moser-Silber für die Wohnung in der Schleifmühlgasse.
    Dort gab es bereits einen wahren Hort an Silber, ein grundlegendes Zubehör in jedem Wiener Haushalt des gehobenen Bürgertums. Durch die Gründung der Wiener Werkstätte eröffneten sich nun Möglichkeiten, in ihrer ersten und größten Werkstatt noch mehr Silberobjekte herzustellen und sich zudem mit Gold, Lederwaren, Buchbinderei und Möbeln zu befassen. Die Gallias konnten die Werkstätte entweder ignorieren, das eine oder andere Objekt dort kaufen oder aber alle möglichen Haushaltsgegenstände. Das war nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Geschmacks, den die Mitglieder einer Familie oft teilten; dann beschäftigten mehrere Verwandte denselben Designer. Oft aber herrschten innerhalb der Familien auch tief gehende Unterschiede: Die einen wandten sich der Moderne zu, die anderen bevorzugten das Althergebrachte. So verhielt es sich auch bei den Familien von Moriz und Hermine; sie zeigten sehr verschiedene Modelle, wie man leben konnte.
    Die Wiederverwertung alter Kunstformen, ob als Neoklassizismus, Neorenaissance, Neogotik oder Neobarock, war im Habsburgerreich damals der vorherrschende Stil. Hermines Onkel Eduard Hamburger entschied sich dafür, als er 1895 bei einem der erfolgreichsten Wiener Architekten, Jakob Gartner, eine Villa in Auftrag gab. Gartner war indirekt durch Heirat mit Eduard verwandt, seine

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