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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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relativ bescheidene Räume ausgestattet hatte.

Die Villa in Altaussee, 1909 von Hermine und Moriz als sommerliches Refugium erworben.
    Moriz und Hermine war wahrscheinlich sehr daran gelegen, eine von Hoffmann eingerichtete Wohnung zu besitzen, im Moment aber hatte ihr erster Immobilienkauf Vorrang. Adolf und Ida hatten eine Villa gekauft, um der Wiener Sommerhitze zu entkommen, Moriz und Hermine taten es ihnen nun nach. In den jährlichen Ferien hatten sie bereits die österreichischen und böhmischen Landschaften erkundet; jetzt entschieden sie sich für Altaussee, einen eleganten Ferienort im Salzkammergut. 1909 boomte die österreichische Wirtschaft, und so bezahlten sie für eine komplett eingerichtete Villa mit vierzehn Zimmern und drei Stockwerken samt Dachboden, Keller und großem Grundstück, wozu ein Tennisplatz gehörte, 40.000 Kronen. In Österreich waren die meisten Häuser im Besitz von Männern, Moriz und Hermine jedoch kauften das ihre gemeinsam – ein Arrangement, das möglicherweise finanzielle Vorteile bot, aber auch entschieden fortschrittlich war.
    Und noch eine Priorität gab es: ein Automobil. 1911 waren bereits mehr als 3000 auf den Wiener Straßen unterwegs, und die meisten Familien, mit denen Moriz und Hermine sich verglichen, besaßen eines. Die beiden wählten einen Gräf & Stift, die angesehenste, luxuriöseste österreichische Marke, die der Kaiser und die Erzherzöge Franz Ferdinand und Karl Stefan bevorzugten. Das Auto von Moriz und Hermine war so groß, dass leicht alle sechs Gallias darin Platz fanden, dazu die Gouvernante der Zwillinge und reichlich Gepäck. Sobald der neue Chauffeur damit im Sommer in der Villa Gallia erschien, begannen sie es wie der sprichwörtliche Junge mit dem neuen Fahrrad zu nutzen: Mindestens ein- bis zweimal täglich waren sie damit zur »obligaten Autofahrt« unterwegs, wie Hermine es nannte.
    Unterdessen demonstrierte sie ihre Vorliebe für Hoffmann und kaufte für die Familienwohnung in der Schleifmühlgasse ihre Silberwaren nur noch bei ihm. Die meisten Schatullen, Flaschenverschlüsse, Serviettenringe und Untersetzer, die sie auswählte, waren für das Esszimmer bestimmt, dazu ein Obstkorb und ein Tafelaufsatz für Kompott. Andere Schalen und Vasen schmückten den Salon. Extra bestellt wurde nur eine mit Hermines Initialen versehene Zigarettendose. Zwei geriffelte Vasen auf glockenförmigen Füßen, 1911 von Hoffmann entworfen, waren Einzelstücke, die Werkstätte produzierte sonst nichts Derartiges. Ein Tintenfass für Moriz’ Schreibtisch war besonders spektakulär. Wie viele der besten Serviceteile Hoffmanns sah es mehr nach dem Modell für ein Phantasiegebäude als nach einem funktionellen Objekt aus.

Moriz’ Tintenfass, um 1911 von Josef Hoffmann entworfen.
    Ende 1911 kauften Moriz und Hermine das Haus Wohllebengasse 4; die österreichische Wirtschaft befand sich damals immer noch im Höhenflug, trotz steigender Inflation und wachsenden Liquiditätsproblemen. Obwohl nur wenige Gehminuten von der Schleifmühlgasse entfernt, lag die Wohllebengasse in einem besseren Teil des vierten Bezirks, mit repräsentativeren Wohnhäusern, Palais und Botschaften und so gut wie keinen Geschäften. Der vierte Bezirk hatte zwar einen der geringsten jüdischen Bevölkerungsanteile Wiens, die reichsten Juden aber lebten hier. Gleich um die Ecke, in der Prinz-Eugen-Straße, stand das Palais Rothschild, die Wittgensteins wiederum wohnten am anderen Ende in der Argentinierstraße.
    Die Villa in Altaussee hatten Moriz und Hermine gemeinsam erworben, und so hielten sie es nun auch beim Wohnhaus in der Wohllebengasse. Es war ein ansehnliches dreistöckiges Haus, 75 Jahre zuvor errichtet, war aber im Zuge einer Umgestaltung der Wohllebengasse, die in den 1880ern begonnen hatte – damals hatten die Wittgensteins das größte Wohnhaus der Straße errichtet, ein Doppelgebäude –, für den Abriss vorgemerkt. Im Jänner 1912 konsultierten Moriz und Hermine Architekten, im Mai erhielten sie die Genehmigung des Magistrats, ein fünfstöckiges Gebäude mit zusätzlich einem Dachboden und einem Keller zu errichten.
    Das Haus in der Wohllebengasse war die bedeutendste Manifestation des Reichtums von Moriz und Hermine, ein Hinweis darauf, wie wohlhabend sie in den zwanzig Jahren in der österreichischen Hauptstadt geworden waren. Es war der deutlichste Ausdruck ihres gesellschaftlichen Ehrgeizes, ihres Bestrebens, in einer der exklusivsten Gegenden Wiens zu leben und als

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