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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Zuckerbaron im Habsburgerreich, waren die berühmtesten Sammler mit demselben Kunstgeschmack wie Moriz und Hermine. Die Bloch-Bauers kauften dieselben Künstler wie die Gallias, da sie aber viel reicher waren, erwarben sie auch mehr Bilder. Außer sieben Klimt-Bildern, darunter ein zweites Porträt von Adele und ein weiterer Buchenwald, kauften die Bloch-Bauers neun Gemälde von Waldmüller, drei von Schindler und eines von Moll. Wenn es ums Sammeln ging, waren Moriz und Hermine Mini-Bloch-Bauers.
    Die blendend helle, schneebedeckte Landschaft, die in der Österreichischen Galerie im Wiener Belvedere so gut wie ständig zum Ausstellungsbestand gehört, wird von einer Frau dominiert, die sich in dem großen Baum rechts im Vordergrund verfangen hat. Sie steht auf dem unteren Teil des Stammes, trägt ein durchsichtiges goldfarbenes Kleid; den Kopf zurückgeworfen, hält sie sich mit einer Hand an einem unbelaubten Zweig fest, ihr langes, windgepeitschtes Haar ist um einen anderen kahlen Zweig gewunden, Gesicht, Hals und Schultern schimmern im Nachmittagslicht, an ihrer Brust liegt ein Säugling. Einige weitere Frauen, ähnlich bekleidet, auch sie langhaarig, sind unterhalb der Berge zur Linken zu sehen. Zwei haben Kinder an der Brust, die im Vordergrund nicht. Ihr Baby liegt auf dem Schnee, offenbar tot, dort wo die Wurzeln des Baumes auslaufen, in dem die Frau sich verfangen hat.
    Dieses 1894 entstandene Gemälde von Giovanni Segantini ist eines der großen Beispiele des Neoimpressionismus, einer von Georges Seurat 1886 in Paris begründeten Kunstrichtung, die ein Bild aus Punkten ungemischter Farben zusammensetzt. Segantini entwickelte dies in seinem eigenen Stil weiter, wobei er lange, schmale Striche einsetzte, die sogenannte Segantini-Masche. Zudem ist das Gemälde eines der großen Werke des Symbolismus und verlangt wie viele symbolistische Bilder nach einer Erklärung. Es gibt zwar eine deutlich erkennbare Geschichte, eine Moral, doch passt die theatralische Szenerie zu keinem religiösen, mythologischen oder literarischen Thema. Wer sind diese Frauen? Wie sieht die Beziehung zu ihren Säuglingen aus? Warum befinden sie sich in dieser weiten, gefrorenen Landschaft?
    Der Titel des Bildes, »Die bösen Mütter«, liefert eine teilweise Antwort, ohne zu erklären, warum diese Mütter Böses getan haben. »Das Nirwana der wollüstigen Frauen«, das Gedicht des Mailänder Schriftstellers Luigi Illica, das Segantini als Inspiration diente, bringt Aufschluss. Seine Ansicht der Frauen war zutiefst konservativ, sehr verschieden von den Stücken, die Hermine und Moriz sahen und die sich mit der »Frauenfrage« und der »neuen Frau« befassten. Es geht um Frauen, deren ungezügelte Lust sie schwanger werden ließ, worauf sie ihre Kinder aus Hedonismus und Selbstsucht im Stich ließen. Zur Strafe wurden sie in eine unfruchtbare, froststarrende Landschaft verbannt, bis sie bereuten und ihre natürlichen mütterlichen Instinkte wieder aufkeimten. Nun konnten sie die Kinder säugen, die durch ihre Vernachlässigung gestorben waren, ein Schritt auf dem Weg zur Erlösung. Indem er dieses Sujet aufnahm, verdammte Segantini die weibliche Sexualität als gefährlich und böse zugleich.
    Eine Beschreibung der »Bösen Mütter« durch den Wiener Kritiker Franz Servaes liefert einen Hinweis, welche Wirkung das Gemälde ursprünglich ausübte. Servaes schrieb: »Ein unglaubliches Weh ist in der Figur der einsamen Verdammten ausgedrückt. Die ganze Biegung ihres Körpers ist wie eine weinende Wehklage; die ausgestreckten Arme sind wie hilflose Verzweiflung; die flatternd im Baume hängenden Haare sind wie der Schmerz einer Selbstmörderin ...« Segantinis tiefere Motive beschäftigten einen von Freuds frühen deutschen Schülern, Karl Abraham, als er seine erste ausführliche psychoanalytische Studie des Künstlers verfasste. Abraham behauptete, der Schlüssel zu Segantinis Werk sei seine sexuelle Fixierung auf seine Mutter, die er als Fünfjähriger verloren hatte. Nach Abraham enthüllten »Die bösen Mütter« Segantinis »unbewussten Wunsch, die eigene Mutter zu strafen, Rache an ihr zu nehmen«.
    Das Gemälde befindet sich in Wien, da es sich die Secession zur Aufgabe gemacht hatte, die Präsentation zeitgenössischer Kunst in der Stadt zu reformieren; so hatte man die kaiserliche Regierung überzeugt, eine moderne Galerie ins Leben zu rufen. Moll stand an vorderster Front bei diesem Vorhaben, befand sich aber in einem typischen

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