Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
größeren zaristischen Armee nach Westen zurückwich, konnten die Österreicher bloß die Stadt Przemyśl halten, wo ihre größte Festung lag, die mit fünfzig Kilometer neu angelegten Schützengräben, 900 Kilometer Stacheldraht und zweihundert Batterien befestigt war. Die Österreicher nahmen mit Recht an, sie könne jedem Angriff standhalten; eine längere Belagerung aber war eine andere Sache. Drei Tage, nachdem Gretl und Norbert sich verlobt hatten, begann der österreichische Festungskommandant, die Pferde schlachten zu lassen, er verschoss beinahe alle verbliebenen Artilleriegranaten, jagte die großen Geschütze in die Luft und zerstörte die meisten Verteidigungsanlagen, um den Russen möglichst wenig Beute in die Hände fallen zu lassen. Als er sich im März 1915 zusammen mit 120.000 Offizieren und Mannschaften ergab, brach Franz Joseph in Tränen aus. Gretl bemerkte: »Der einzige Faktor, der unser Glück trübt, ist dieser unglückselige Krieg.«
Noch weniger interessierte sie eine Gegenoffensive der Österreicher und Deutschen zwei Monate später, bei welcher deren vereinte Streitkräfte die russischen Linien durchbrachen und nach Osten vorstießen, wobei sie rasch 30.000 Gefangene machten. Gretl schrieb bloß deshalb über den Sieg, weil Hermine, die ihn feiern wollte, solche Mühe hatte, die habsburgische Fahne an der Wohnung zu hissen, dass sie Norbert und Gretl für eine wunderbare halbe Stunde allein ließ. Die Aktionen Italiens, das durch den Krieg Gebietsgewinne zu erzielen hoffte, beunruhigten Gretl viel mehr. Als Österreich sich weigerte, einer Gebietsabtretung zuzustimmen – das hätte Italiens fortdauernde Neutralität gesichert –, wusste jeder, dass Italien den Krieg erklären und so Österreich zwingen würde, im Südwesten eine dritte Front zu eröffnen, was noch mehr Soldaten band. »Gott soll mir nur das große Glück geben, dass sie meinen Schatz bei der Assentierung nicht behalten!«, rief Gretl am 17. Mai. Und dann, erstaunt, dass sie sich neuerdings auf Gott verließ: »Wie fromm man jetzt wird! Was bete ich jetzt nicht jeden Abend zusammen!« Und sie fuhr fort: »Gott gib, dass all meine Wünsche in Erfüllung gehen! Jetzt soll nur mit Italien & Rumänien & Bulgarien Frieden bleiben.«
Drei Tage später hatte Gretl noch größere Angst, denn Norbert hatte beschlossen, sich freiwillig zu melden. »Wenn ich ihn an der Front wüsste, Gott steh mir bei, das darf ich nicht einmal denken, sonst werd ich noch toll.« Als das italienische Parlament am 20. Mai zusammentrat und für den Kriegseintritt stimmte, warteten die Gallias und Sterns in der Wohllebengasse auf die Extraausgabe der Zeitungen, die die Nachricht von der Entscheidung Italiens bringen sollten, seine ehemaligen Partner im Dreibund anzugreifen. Wie die meisten Österreicher empfand auch Gretl dies als ungeheuerlichen Verrat. Der österreichische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf verglich Italien mit einer Schlange. Gretl schäumte: »Die Schweine von Italienern haben uns den Krieg erklärt.«
Glaubt man Karl Kraus, dann konnten sich Österreicher mit guten Beziehungen leicht vor dem Militärdienst drücken. In den »Letzten Tagen der Menschheit« findet sich ein Wortwechsel zwischen zwei Drückebergern, die »hinaufgehen und sich’s richten«, also gar nicht einrücken müssen. Öfter wurden solche Personen zwar eingezogen, erhielten aber eine spezielle Behandlung. So verschafften zum Beispiel Egon Schieles Mäzene ihm eine Stelle in der k.k. Konsumanstalt, die es dem Künstler erlaubte, weiterhin zu malen und Ausstellungen zu organisieren. Hugo von Hofmannsthal genoss noch mehr Privilegien. Nach einer kurzen Zeit in einem Schreibtischjob fern der Front kehrte er nach der gemeinsamen Intervention des wichtigsten Beraters des Außenministers, eines Provinzgouverneurs und zweier führender österreichischer Politiker ins Zivilleben zurück.
Moriz hoffte, sein Status als Regierungsrat und Unternehmer würde es ihm erlauben, Norbert zu schützen, so wie er im Jahr zuvor Ernis Position als Offiziersanwärter gerettet hatte. Als Norbert am Tag nach der Kriegserklärung Italiens das Kriegsministerium aufsuchte, um sich krankzumelden, begleitete ihn Moriz; im Ministerium wies man sie allerdings an, abzuwarten, was nach einer weiteren Untersuchung durch die Armee verfügt werden würde. Im Warten entwickelte Gretl ihre eigene Version des Vaterunsers, das so endete: »gib uns Frieden & Sieg & uns 2 im Speziellen gib
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