Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Glück & Freude & lass meinen Norbert bei der Assentierung nicht behalten werden & wenn so als Landsturmingenieur & lass ihn nicht an die Front kommen. Amen!«
Anfang Juni erging der Bescheid, dass Norbert einrücken müsse. In ganz Wien wurden derweilen Flaggen gehisst, um die Wiedereinnahme der Festung Przemyśl zu feiern. Als Norbert hörte, er müsse sofort mit der Ausbildung beginnen und würde binnen vier Monaten mit einem Infanterieregiment an der Front stehen, suchte Gretl Vergleiche bei Shakespeares »Hamlet«, der immer noch auf dem Spielplan des Hofburgtheaters stand, obwohl britische Werke verboten waren; das gelte bloß für lebende Autoren, hieß es. Gretl wälzte Gedanken, Norbert könne an der Front getötet werden, verzweifelte und sah sich in ihrem Unglück schon als »eine 2. Ophelia«, ohne Klagen zu sterben bereit. Moriz ließ ihre Hoffnungen wieder aufleben. Nachdem er noch einmal das Ministerium aufgesucht hatte, um die Entscheidung der Armee anzufechten, erreichte Gretls Bewunderung neue Höhen. »Alles ist noch nicht verloren«, rief sie. »Vater ist ein Engel & ein Genie!«
Noch glücklicher war sie eine Woche später, als Norberts Einberufung auf Mitte Juli verschoben wurde. Als eine Taube in ihr Zimmer flog und eine Feder fallen ließ, nahm sie das als Omen, dass Norbert der Front entgehen könne. Er allerdings wusste, dass er dienen würde müssen. Als er Ende Juni 1915 seinen Arbeitsplatz in Wien räumte, erwartete er, bald in Italien zu stehen, während seine Kollegen sich auf Postkarten von ihm freuten, die die Einnahme Mailands durch die Österreicher melden würden. »Heil und Sieg!«, rief einer zum Abschied.
Eines der in Deutschland und Österreich zu Kriegsbeginn populärsten und bösartigsten Propagandastücke war der »Haßgesang gegen England« des Dichters Ernst Lissauer. Nachdem Italien Österreich den Krieg erklärt hatte, versuchten die Wiener Schriftsteller Artur Löwenstein und Grete von Urbanitzky vergeblich, Lissauers Erfolg mit einem »Haßgesang gegen Italien« zur Musik von Renato Attilio Bleibtreu zu übertrumpfen. Als die Gallias wie üblich ihre Sommerferien in Altaussee verbrachten und Norbert sie Anfang Juli für eine Woche besuchte, brachte er Gretl den neuen »Haßgesang« mit, damit sie ihn auf dem Pianino in der Villa Gallia vorspielte.
Nach der Verlobung gab Gretl Norbert etliche Geschenke, darunter einen Reisewecker mit radiumbeleuchtetem Zifferblatt und eine illustrierte Ausgabe von Hans Christian Andersen, die sie ausgesucht hatte, weil sie so schön war und weil sie Märchen liebte. Ein drittes Geschenk stammte aus der Wiener Werkstätte, wo die Gallias noch öfter einkauften, seit Moriz einer der Direktoren war. Als Gretl und Norbert zusammen Ostern feierten, schenkte sie ihm eine schwarze WW-Aktenmappe − ein sehr großzügiges Geschenk, bedenkt man, dass ein WW-Taschentuch mehr kostete, als der Wochenlohn einer Schneidermeisterin betrug.
Wie die Konvention es verlangte, überreichte Norbert Gretl noch mehr Geschenke, obwohl er sich ähnlich Luxuriöses selten leisten konnte. Er brachte ihr nicht nur immer etwas mit, wenn sie einander sahen, sondern schickte ihr auch zwischendurch Gaben. Meist waren es Blumen – Veilchen, Lilien, Schneeglöckchen, weiße, rosa und rote Nelken, rote Tulpen, dunkelrote Rhododendren, langstielige dunkelrote Rosen. Gelegentlich schenkte er ihr auch Schmuck, Nippes, Bücher und Musiknoten. An einem Dienstag war sie entzückt, als er ihr statt der erwarteten Blumen eine Auswahl an Handtaschen schickte, damit sie sich eine aussuchte. Gretl war hingerissen von diesen Beweisen der Zuneigung.
Mit ihm allein zu sein fand sie »selten schön«, »herrlich«, sogar »göttlich«; ohne Erlaubnis aber war es ihnen nicht möglich, sich zusammen zurückzuziehen, und sie mussten achtgeben, sich nicht zu lange zu absentieren, oder man hätte sie getadelt, weil sie die Grenzen des Anstands überschritten. Am ehesten ging das noch in der Wohllebengasse, wo Norbert viel öfter zu Besuch war als Gretl in Frau Sterns Wohnung. Gretl war so dankbar für eine dieser Gelegenheiten, dass sie ausrief: »Mutti ist ein Engel!« An einem anderen Abend war sie entzückt, als Hermine Norbert und ihr zweimal erlaubte, sich zurückzuziehen. Ähnlich begeistert war sie darüber, wie ihre Tante Ida ihre Verlobung mit einem Nachmittagstee feierte, noch großartiger, schrieb Gretl, als der, den Hermine in der Wohllebengasse veranstaltet hatte. Gretl
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