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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Gretl hatte das Gefühl, Norbert kümmere sich mehr um den Hund seiner Familie als um sie. Als sie zu weinen begann, hatte sie das Gefühl, ihre Eltern und Schwestern freuten sich darüber.
    Ein paar Tage später teilten Norbert und Gretl einander mit, wie enttäuscht sie über den jeweils anderen gewesen waren. Er war überrascht, dass sie so empfindlich, sie, dass er ein solcher Dummkopf war. Norbert entschuldigte sich zwar am Tag darauf und meinte, seine Kritik sei unberechtigt gewesen, doch nannte er sie schon ein paar Tage darauf kokett und verschwenderisch, während Gretl ihn beschuldigte, unaufmerksam und knauserig zu sein. Ihr Ideal sei ihr Vater, vertraute sie ihrem Tagebuch an. »So jemanden wie Papa gibt es aber auch kein 2. Mal auf der Welt«, schrieb sie; »ich bete allabendlich darum dass Norbert ihm möglichst ähnlich wird.«
    Auch wegen des Hundes seiner Familie stritten sie sich bald. Norbert wollte ihn nach der Hochzeit bei sich haben, sie wollte das nicht. »Ich bat ihn – die 1. Bitte, & die zu erfüllen in seiner Macht steht? & er sagt mir sie nicht gleich zu!«, berichtete sie. Norberts Weigerung war eine »Enttäuschung ... die 1. und darum bitterste in meinem Leben«. Zudem behielt Norbert diesen Streit nicht für sich, sondern erzählte umgehend seiner Mutter davon, die ankündigte, den Hund behalten zu wollen, aber Gretl war nicht besänftigt. Ein Stachel blieb, ein Stachel, der wehtat, schrieb sie in der Sprache der Märchen. An diesem Abend meinte Hermine zu Gretl, Moriz und sie, aber besonders Moriz, fürchteten, Norbert sei der falsche Mann für sie.
    Doch inzwischen bereute Gretl das alles. Es war ihr klar, dass sie überreagiert hatte, und sie war sich sicher, dass die Schuld an den Konflikten hauptsächlich bei ihr lag. Als Hermine fragte, ob sie sich sicher sei, den Rest ihres Lebens mit Norbert verbringen zu wollen, zögerte Gretl nicht. »Ich habe trotz alledem ganz & aus vollster Überzeugung mit ja geantwortet.« Am nächsten Morgen war sie noch zerknirschter, als sie überlegte, warum sie überhaupt gestritten hatten. »Ich verlange mehr Rücksicht als ich selbst nehme«, bemerkte sie mit einem Aufblitzen von Selbsterkenntnis, wie es immer wieder in ihrem Tagebuch auftauchte. Wenn sein Hund Norbert so wichtig war, dann sollte er seinen Willen haben, wenn auch widerwillig. Ihr Opfer würde »für mich gewiss ein sehr großes« sein, »größer als die anderen & besonders als er glaubt«.
    Wieder versöhnten sie sich, obwohl es Gretl an Worten fehlte, um zu vermitteln, wie leid ihr das alles tue. Norbert und sie versprachen einander, den Streit als bösen Traum zu betrachten. Er brachte ihr einen besonders prächtigen Strauß langstieliger roter Rosen. An diesem Abend grübelte sie ungewöhnlich lange über die Art Ehe nach, die sie führen wollte: »Ein Mann der seiner Frau Alles nachgibt – pfui, das möcht’ ich nicht«, erklärte sie, als wären solche Männer im Wien von 1915 leicht zu finden gewesen. »Ich muss vor meinem Mann Achtung haben & zu ihm emporblicken, wie ich es zu Norbert kann«; sie war bereit, seine Überlegenheit anzuerkennen. »Ich will keine Zierpuppe sein«; vielleicht hatte sie dabei Ibsens »Nora oder ein Puppenheim« im Sinn. Ihr Ziel, beeinflusst von der Ehe ihrer Eltern und der zeitgenössischen Frauenrechtsbewegung, war Gleichheit: »Ich will ihm ein Kamerad fürs Leben sein.«
    Doch als sie mit Moriz zu streiten begann – was sie besonders verstörte, da sie einander immer so nahegestanden waren –, kam Gretl allmählich zu der Ansicht, die Verlobung könne ein Fehler gewesen sein. Sie spürte, dass Moriz’ Widerstand gegen ihre Verlobung der Grund sei, also fragte sie ihn, was er denke. Moriz vermied es zwar, sich gegen Norbert auszusprechen, gab aber zu, er sei auch nicht für ihn. Ausschlaggebend waren die Finanzen. Moriz hätte es gerne gesehen, wenn Gretls Ehemann Frau und Kinder hätte unterhalten können. Er warnte, Norbert würde mehr auf sein Geld achten, als es ihr angenehm wäre. »Jetzt bin ich voller Zweifel & Kummer«, schloss sie, »& war doch gar so glücklich.«
    Eine Frage der Etikette hatte einen weiteren Konflikt zur Folge. Als Hermine im Juni 45 Jahre alt wurde, schickte Norbert eine Zwei-Kilo-Bonbonniere mit einer Karte, auf der stand: »Architekt Norbert Stern mit den herzlichsten Glückwünschen.« Hermine hatte nichts gegen die Schokolade, doch sie »ärgerte sich sehr«, wie Gretl berichtete, nicht nur wegen der

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