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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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war besonders berührt davon, dass dies die erste Teestunde war, bei der Ida ihr neues Flora-Danica-Service aufdeckte; offensichtlich waren also Adolfs und ihre Konsumgewohnheiten in den ersten Monaten vom Krieg unberührt geblieben. Der Höhepunkt dieses Tees jedoch war für Gretl, dass Ida überraschend Norbert und ihr erlaubte, kurz miteinander allein zu sein.
    Einen Monat nach ihrer Verlobung gingen sie zum ersten Mal allein miteinander aus. Norbert holte Gretl in der Wohnung ihrer Großeltern Nathan und Josefine Hamburger ab, die eben aus Freudenthal in den vornehmen Bezirk Hietzing gezogen waren. Da er auf dem Weg zu einem Vortrag war, hatten sie nur eine Stunde Zeit. Als er die üblichen Formalitäten erledigt, die Großeltern begrüßt und sich verabschiedet hatte, stand Gretl und ihm kaum mehr als die Hälfte der Zeit zur Verfügung. Sie nutzten sie, um sich die eben fertiggestellte Villa anzusehen, die Hoffmann für den Grundbesitzer und Industriellen Robert Primavesi und seine Lebensgefährtin Josephine Skywa gebaut hatte. Falls Norbert und Gretl dieses Ausgehen hätten rechtfertigen müssen, hatten sie vielleicht erklärt, dass Hoffmann ja der Familienarchitekt der Gallias war und Norbert ein professionelles Interesse an dessen Arbeit hatte. Doch Gretl erwähnte Hoffmann in ihrem Tagebuch nicht. Aufregend fand sie jedenfalls: »Zum 1. Mal war ich mit ihm allein auf der Straße.«
    Ihre sonstigen Ausgänge dauerten immer bloß wenige Stunden. Beim ersten Mal absolvierten sie per Fiaker kurze Besuche bei verschiedenen Gallia-Verwandten, beim zweiten suchten sie am Pfingstsonntag das Grab von Norberts Vater auf. Gretl berichtete: »zum ersten Male wir beide allein aufs Grab vom Papa Stern, & brachten ihm Blumen. Mein lieber Schatz muss wohl sehr an seinem leider so früh verstorbenen Vater gehangen sein! Auch mir ist dieser Besuch am Grab ungemein nahe gegangen & ich habe vom ganzen Herzen gebetet.«
    Sonst standen Norbert und Gretl immer unter der Aufsicht von Anstandspersonen und hatten höchstens ein paar Minuten für sich allein. Am meisten Vergnügen bereitete Gretl eine Ausfahrt zu Christi Himmelfahrt in das barocke Stift Melk. Damals wie heute war diese Reise am schönsten, wenn man von Wien den Zug und zurück das Donaudampfschiff nahm. Gretl, die diese Fahrt noch nie gemacht hatte, beschrieb den Ausflug als den schönsten Himmelfahrtstag, den sie je erlebt hatte. Norbert und sie waren »so selig«; ihr Entzücken wuchs noch, als sie in die Wohllebengasse heimkehrte und Frau Stern unten im Taxi wartete, während Norbert sie in die Wohnung brachte: »wir konnten uns doch wenigstens auf der Treppe einen schnellen Kuss geben. Besser wie nichts!«
    Als frisch verlobtes Paar erwartete man von Gretl und Norbert auch, etlichen Einladungen zum Tee bei Verwandten und Freunden Folge zu leisten. Sechs Wochen mussten vergehen, bis Gretl solche Anlässe nicht mehr verlegen oder nervös machten. Die vielen Ratschläge, die man ihr über ihr Leben als verheiratete Frau erteilte, erschreckten sie zutiefst. Noch mehr störte es sie, dass Norbert und sie überhaupt keine Zeit füreinander hatten. Ständig beklagte sie, sie habe gar nichts von seiner Anwesenheit, da immer andere dabei seien. Ihr schien es eine Ewigkeit, wenn sie eine Woche auf die Gelegenheit warten musste, mit ihm allein zu sein. Manchmal musste sie sogar vierzehn Tage aushalten. Sie genoss ihre Stellung als Verlobte keineswegs, es frustrierte sie eher.
    Die Familie machte ihr ebenfalls Kummer. Eine »Explosion«, wie Gretl es nannte, fand ihren Höhepunkt, als Hermine auf Englisch ausrief: »Wenn du verheiratet bist, werde ich mit dir genau so viel Ärger haben wie eh und je.« Und wenn Norbert wüsste, wie Gretl sich manchmal benehme, fuhr Hermine auf Deutsch fort, würde er sie »vor der Hochzeit stehen lassen«. Bei einem anderen Eklat beschuldigte Hermine Norbert in seiner Abwesenheit, er habe keine Manieren, da er die Wohnung verlassen hatte, ohne sich von Hermines Mutter zu verabschieden. Und ein weiterer folgte, nachdem Moriz und Hermine Norbert zu Wagners »Parsifal« in der Hofoper eingeladen hatten; er ging vor dem zweiten Akt und war unklug genug, Käthe zu sagen, er habe ohnehin nie hingehen wollen. Gretl war zunächst entsetzt, wie taktlos ihre Familie war, ihren Verlobten vor ihr herabzusetzen, und befürchtete bald, sie wären darauf aus, dass sie mit ihm stritt. Wenn das ihr Ziel war, dann hatten sie eines Abends Ende April Erfolg:

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