Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Diplokokken und Streptokokken, nachgewiesen hatten.
Es war allmählich üblich geworden, dass reiche Wiener in kritischem Gesundheitszustand in eine Institution verlegt wurden, anstatt daheim zu sterben. Gustav Mahler starb 1911 im Sanatorium Loew, das von wohlhabenden Patienten bevorzugt wurde. Auch Moriz’ Bruder Wilhelm war 1912 dort gestorben, Hermines Schwägerin Henny Hamburger ein Jahr später. Nachdem Moriz’ Gesundheitszustand sich im Kurhaus Semmering so sehr verschlechtert hatte, blieb er in der Wohllebengasse, wo seine Ärzte schwankten, ob sie dämpfende oder anregende Medikamente verabreichen sollten, manchmal Morphium, manchmal Koffein. Ab Ende Juli war er meist nur halb bei Bewusstsein. Am 12. August wurde er an eine Lungenmaschine angeschlossen, einen Tag später fiel er ins Koma. Er starb am 17. August, Hermine, Erni, Gretl, Käthe, Lene und Hermines Bruder Otto waren bei ihm. Offizielle Todesursache war Herzversagen. Er war 59 Jahre alt.
Die althergebrachte Vorliebe der Wiener für eine »schöne Leich’«, also für ein prunkvolles Begräbnis, prägte Gretls Beschreibung dessen, was nun folgte. So wie ihr Onkel Otto gesagt hatte, seine Frau Henny habe »einen schönen Tod« gehabt, so berichtete nun Gretl, wie sie Moriz zuerst gewaschen, ihm dann seinen besten Geschäftsanzug angezogen und ihn aufgebahrt hatten, »schön und lächelnd!« Am Nachmittag kam der Sarg, und sie legten Moriz hinein. »Er lag im schwarzen Anzug so schön da«, wiederholte Gretl. Dann begleiteten Erni und Otto gemeinsam mit Adolf und Ida den Sarg auf den Hietzinger Friedhof, während Hermine, Gretl und die Zwillinge daheimblieben. Gretl beendete ihren Tagebucheintrag an diesem Tag, indem sie sich an ihren Vater wandte. »Leb wohl – aber nicht auf immer!«, schrieb sie voller Zuversicht, dass sie einander in einem anderen Leben wiedersehen würden. »Auf Wiedersehen, Vatl!«
Am nächsten und übernächsten Tag ging Gretl auf den Friedhof und war wieder sehr berührt davon, wie friedlich und gelöst Moriz in seinem Sarg wirkte; an einem Ende war ein Glasfensterchen, sodass sein Gesicht zu sehen war. Hermine hatte unterdessen eine Dreifachparzelle in der katholischen Abteilung des Friedhofs gekauft, wo Moriz und sie und ihre vier Kinder Platz hatten, wenn auch nicht deren Ehemänner und Ehefrau, sodass die Familie im Tod vereint sein würde, so wie es sich Moriz und sie für das Leben in der Wohllebengasse gewünscht hatten. Die Bestattung fand am 20. August statt. Zur »schönen Leich’« gehörte üblicherweise ein aufwendiges, sogar pompöses Begräbnis, das aber hatte Moriz nicht gewollt. In seinem Testament ersuchte er um eine einfache Beisetzung, »da ich auch im Leben kein Freund von Äußerlichkeiten gewesen bin«. In einem Nachsatz ging er noch weiter und bestimmte, dass sein Begräbnis im privaten Kreis stattfinden und erst im Nachhinein angezeigt werden solle. »Es war herrlich, feierlich«, schrieb Gretl, nachdem es so stattgefunden hatte, wie Moriz es festgelegt hatte. »Alle haben für Vaterl geweint.«
Der Nachruf in der
Neuen Freien Presse
des nächsten Tages brachte einen kurzen Bericht über Moriz’ berufliche Laufbahn, seine Hingabe an die Kunst und seine Krankheit. Die Todesanzeigen waren viel umfangreicher und füllten beinahe eineinhalb Seiten der Zeitung, mehr als bei allen anderen, die in diesem Jahr starben. Auf der Anzeige der Familie wurde Moriz als Regierungsrat und großer Industrieller bezeichnet. Auf den Anzeigen der Firma Hamburger, der Graetzin-Licht-Gesellschaft und der Firma Johann Timmels Witwe war er nicht nur als Direktor dieser Unternehmen und der Eisenbahn Trient–Malè, sondern auch als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Wiener Werkstätte angeführt.
Laut Gretls Tagebuch beachtete die Familie die katholischen Riten nur höchst nachlässig. Als sie einmal eine Reihe von Familienprinzipien auflistete, notierte sie: »Sonntag benützte man dazu sich (auf Vorrat) für die Woche auszurasten«, statt in die Kirche zu gehen. In den ersten sieben Monaten des Jahres hatte sie nur einmal in der Karlskirche, der schönsten Wiener Barockkirche, ein paar Häuserblocks von der Wohllebengasse entfernt, die Messe besucht und war zur Kommunion gegangen. Die Totenmesse für Moriz wurde ebenfalls dort gefeiert, denn sie war die Pfarrkirche der Familie, und dort war Platz genug für die vielen Freunde, Bekannten, Geschäftspartner und Angestellten. Nachher kamen einige Verwandte zu
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