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Wohnraum auf Raedern

Wohnraum auf Raedern

Titel: Wohnraum auf Raedern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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ernährten sich von irgendwelchen Instruktionen und von gelber Grütze, in der sich manchmal schöne kleine Steinchen fanden, die Amethysten glichen.
    Ich befand mich genau in der Mitte zwischen beiden Lagern, und vor mir lag plötzlich höchst einfach und klar ein Lotterieschein mit der Aufschrift – Tod. Als ich ihn erblickte, war es wie ein Erwachen. Ich entwickelte eine unglaubliche, unerhörte Energie. Ich bin nicht zugrunde gegangen, obwohl die Schläge nur so auf mich herni e derprasselten, und zwar von beiden Seiten. Die Bou r geois jagten mich nach einem Blick auf meinen Anzug davon ins Lager der Proletarier. Die Proletarier versuc h ten mich mit der Begründung aus meiner Wohnung auszuweisen, ich sei zwar kein reinrassiger Bourgeois, aber auf jeden Fall dessen Surrogat. Sie haben mich nicht ausgewiesen. Und sie werden mich nicht ausweisen. Da können Sie ganz sicher sein. Ich habe die Verteid i gungsmaßnahmen beider Lager angenommen. Ich habe mir ein dickes Fell von Mandaten zugelegt und gelernt, mich von kleingehackter bunter Grütze zu ernähren. Mein Körper wurde mager und sehnig, mein Herz e i sern, meine Augen scharf. Ich wurde hart wie Stahl.
    Hart wie Stahl, mit Bestätigungen in der Tasche, ging ich im groben Drapémantel durch Moskau und sah das Panorama. Die Fenster waren staubig. Sie waren vernagelt. Aber hie und da wurden schon Pasteten ve r kauft. An den Ecken hingen die unvermeidlichen Schilder mit der Aufschrift »Verteiler Nr. ...«. Und wenn ihr mich umbringt, bis heute weiß ich nicht, was dort verteilt wurde. Drinnen war nichts außer Spin n weben und einer verrunzelten Alten im wollenen Kop f tuch mit einem Loch am Scheitel. Ich erinnere mich, wie die Alte mit den Händen fuchtelte und heiser krächzte: »Geschlossen, geschlossen, hier ist niemand, Genosse!« Und darauf verschwand sie durch irgendeine Falltür.
    Möglich, daß das heroische Zeiten waren, auf jeden Fall waren es nackte Zeiten.
     
     
    Zweites Panorama. Von oben nach unten
     
    Den höchsten Punkt im Zentrum Moskaus erklomm ich an einem grauen Apriltag. Der höchste Punkt war die oberste Plattform auf dem flachen Dach des ehem a ligen Nierensee-Hauses und heutigen Räte-Hauses in der Gnesdnikowgasse. Unten lag Moskau, sichtbar bis an den Stadtrand. Etwas wie Dunst oder Nebel lag über der Stadt, aber durch den leichten Dunst hindurch blickten zahllose Dächer, Fabrikschlote und die Ku p peln der vierzig mal vierzig Kirchen. Der Aprilwind blies auf das flache Dach, welches leer war wie es im Herzen leer war. Und doch war der Wind schon warm. Und es schien, als wehe er von unten, als stiege die Wärme vom Schoße Moskaus herauf. Dieser Schoß dröhnte noch nicht so furchteinflößend und freudig wie der anderer großer lebendiger Städte, aber eine Art von Geräusch drang dennoch durch den dünnen N e belschleier nach oben. Der Ton war unklar, schwach, aber allumfassend. Vom Zentrum bis zum Ring der Boulevards, vom Ring der Boulevards bis an den Stad t rand, bis an den feinen blaugrauen Rauch, der das wei t räumige Moskauer Vorland verbarg.
    »Es scheint, Moskau tönt«, sagte ich unsicher, wä h rend ich mich über das Geländer beugte.
    »Das ist die NEP«, antwortete mein Begleiter und hielt sich den Hut fest.
    »Laß dieses ekelhafte Wort!« antwortete ich. »Das ist überhaupt kein NEP, das ist das Leben selbst. Moskau beginnt zu leben.«
    Ich war froh und ängstlich zugleich. Moskau beginnt zu leben, das war klar, aber würde ich auch leben? Ach, das waren noch schwere Zeiten. Man konnte sich nicht auf den morgigen Tag verlassen. Trotzdem aßen ich und meinesgleichen nicht mehr Grütze und Sacharin. Es gab Fleisch zu Mittag. Zum ersten Mal seit drei Jahren »erhielt« ich keine Schuhe, sondern »kaufte« sie, und sie waren nicht doppelt so groß wie meine Füße, sondern nur um zwei Nummern größer.
    Unten war es unterhaltsam und ein bißchen schrec k lich. Die NEP-Leute fuhren schon in Mietskutschen und brüllten durch die ganze Stadt. Voll Schrecken blickte ich ihnen ins Antlitz und zitterte bei dem G e danken, sie könnten ganz Moskau überfluten, goldene Zehner in der Tasche haben, mich aus meinem Zi m mer hinauswerfen, daß sie stark und böse sind und ein freches Mundwerk und steinerne Herzen haben.
    Aber während ich vom höchsten Punkt ins Gewühl hinunterstieg, begann ich wieder zu leben. Sie warfen mich nicht hinaus. Und sie werden mich nicht hinau s werfen, da können Sie sicher sein.
    Unten erwartete

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