Wohnraum auf Raedern
Kaufhausgalerien auf dem Roten Platz, die jahr e lang ein widriges Bild schäbiger Leere boten, sind nun wieder mit Waren gefüllt. In der Mitte am Brunnen herrscht reges Treiben. Dort wird mit Valuta gehandelt. In den glatten Gesichtern der Händler wirkt nur eine gewisse Unsicherheit in den Äugen störend. Das ist meiner Meinung nach ganz verständlich: das GUM hat nur drei Ausgänge. Am Ilja-Tor, da ist es etwas anderes – der Platz ist groß, man sieht weit ...
Gasthäuser schießen an allen Ecken und Enden aus dem Boden oder werden wiedereröffnet. Auf dem Zwetnoj Boulevard dröhnen scheppernd die Takte der »echten« Polka durch den Dunst:
Komm, mein lieber Engel, komm,
Tanz mit mir die Polka.
Ach, ich höre schon den Klang
Der paradiesischen Polka!!!
Die Kutscher wenden sich jetzt öfters auf dem Kutsc h bock um und knüpfen ein Gespräch an. Sie jammern über die schlechten Zeiten, darüber, daß es ihrer schon zu viele gäbe und daß die Leute lieber mit der Straße n bahn fahren. Die Kinoreklamen, die als Transparente über die Straßen gespannt sind, flattern im Wind. Die Zäune sind unter Millionen von Plakaten verschwu n den. Für neue ausländische Filme wird geworben, eine Ankündigung verheißt: »Gericht über die Prostituierte Saborowa, die einen Rotarmisten mit Syphilis anstec k te«, zahllose Diskussionen, Vorträge, Konzerte finden statt. »Sanin« wird verurteilt, ebenso Kuprins Roman ›Die Gruft‹ und der Film ›Pater Sergius‹, man spielt Wagner ohne Dirigenten, die ›Verkehrte Welt‹ wird mit Militärscheinwerfern und Autos aufgeführt, es gibt Konzerte im Radio, die Schneider nähen Uniformhe m den mit glänzenden Sternen an den Ärmeln und Kr a genspiegeln voller Rhomben. Die Kioske sind mit Ze i tungen und Zeitschriften überfüllt ...
Und nun blitzt die Märzsonne, der Schnee schmilzt. Das Brummen der Lastautos ist noch tiefer geworden, noch wilder und fröhlicher. Zu den Sperlingsbergen führt schon eine Straße, dort wird gegraben, Bretter werden hingefahren, Schubkarren quietschen – die Allrussische Ausstellung wird vorbereitet.
Und ich sitze zu Hause in meinem Zimmer im vie r ten Stock, das mit alten Büchern vollgestopft ist, und träume davon, wie ich im Sommer auf die Sperling s berge, von denen Napoleon herabblickte, steigen werde und sehe, wie die vierzig mal vierzig Kuppeln auf den sieben Hügeln glühen, wie Moskau atmet und glänzt. Moskau – die Mutter.
Das entzündete Hirn
Gewidmet allen Redakteuren
von Wochenzeitungen
In meiner rechten Hosentasche lagen 9 Kopeken – zwei Dreikopekenstücke, ein Zweikopekenstück und eine Kopeke, und bei jedem Schritt klirrten sie wie Sporen. Die Vorübergehenden schielten auf meine Tasche.
Mein Gehirn scheint zu zerschmelzen. Asphalt schmilzt doch auch bei hoher Temperatur! Wieso soll Hirn nicht schmelzen? Zwar befindet es sich in einem Knochengehäuse und ist von Haaren und einer weißen Mütze bedeckt. Schöne Halbkugeln mit Windungen liegen drinnen und schweigen.
Und die Kopeken klingeln.
Am ehemaligen Café Filippow las ich auf einem we i ßen Papierstreifen die Aufschrift: »Tagessuppe, Ster n hausen gedämpft, Menü in zwei Gängen – 1 Rubel«.
Ich langte nach den neun Kopeken und warf sie in den Straßengraben. Zu den neun Kopeken trat ein Mann heran, in einer abgetragenen Seemannsmütze, Hosen mit verschiedenen Beinen und nur einem Stiefel, salutierte vor dem Geld und schrie: »Der Admiral der Seestreitkräfte dankt. Hurra!« Danach hob er die Mü n zen auf und begann mit lauter dünner Stimme zu singen:
Im Garten die Ne-elken
Sind längst schon verwe-elkt! ...
Der Strom der Passanten zog vorbei, wortlos schna u fend, als gehöre es sich, daß um vier Uhr nachmittags, in der Hitze, auf der Twerskaja, ein Admiral mit einem Stiefel singe.
Da begannen mir viele zu folgen und sprachen zu mir: »Humaner Ausländer, überlaß auch mir 9 Kop e ken. Er ist ein Schwindler, er war nie bei der Flotte.«
»Herr Professor, hätten Sie die Liebenswürdigkeit ...«
Und ein Junge, der wie ein Schwarzmeerkosak mit abgeschnittenem Bart aussah, sprang vor mir auf dem Pflaster eine Elle hoch und erzählte eilig mit heiserer Stimme:
Beim Kaluga-Tor
Lebte der Straßenräuber Komarow!
Ich schloß die Augen, um ihn nicht sehen zu müssen, und begann zu sprechen:
– Nehmen wir folgendes an. Der Anfang: es ist heiß, ich gehe und da ist der Junge. Er hüpft. Ein Obdachl o ser. Und
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